Unendliches Lesen

KLASSIKER Die französische Historikerin Anka Muhlstein begibt sich in der „Bibliothek des Monsieur Proust“ auf literarische Spurensuche durch den Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

Der kleine Marcel war jedes Mal zutiefst traurig, wenn er ein Buch ausgelesen hatte

VON TOBIAS SCHWARTZ

Längst nicht jeder Buchautor ist auch ein großer Leser. Im Gegenteil, bei manchen wünschte man sich, sie hätten ihre Nase vorm Schreiben eines Buches auch mal in ein anderes gesteckt. Marcel Proust aber war beides, ein großer Schriftsteller und ein begnadeter Leser, ja ein manischer, besessener Leser. Da gibt es gar keinen Zweifel. Es handelt sich bei dem Verfasser des monumentalen Jahrhundertromans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ um einen beispielhaften, heute leider vom Aussterben bedrohten Poeta doctus – einen „gelehrten Dichter“; der für die Lektüre seines Werkes umfassende literarische Bildung voraussetzt und darin mehr oder weniger explizit mit literarischen Bezügen spielt. Die von Proust gelesenen Bücher haben zahllose Spuren hinterlassen. Sein Opus magnum ist nicht nur Weltliteratur, es besteht auch daraus. Zu wesentlichen Stücken.

Mit ihrem letzten Buch, „Die Austern des Monsieur Balzac“, schuf Anka Muhlstein eine Art belletristischen Restaurantführer durch die „Menschliche Komödie“ Honoré de Balzacs; in der „Bibliothek des Monsieur Proust“ begibt sich die als Ehefrau des Schriftstellers Louis Begley seit Jahrzehnten in New York lebende französische Historikerin nun auf literarische Spurensuche durch die „Recherche“. Ein gewagtes Unternehmen; dessen ist sich die Autorin durchaus bewusst. Ein Führer durch Prousts immensen Bildungsschatz liefe Gefahr, den Umfang des Werkes selbst noch zu überbieten. Und das sind immerhin mehr als 5.000 Seiten.

Notgedrungen und klugerweise bescheidet sich Muhlstein und setzt stattdessen Schwerpunkte – auf die Bücher, die Proust als Kind gelesen hat, auf die ihr zufolge häufig übersehenen Spuren Baudelaires und Ruskins sowie den idiosynkratischen Umgang mit Racine und Balzac. Dabei geht Muhlstein auch anekdotisch vor. Man erfährt etwa, wie traumatisch Lesen im Allgemeinen für den jungen Proust war – in der Hinsicht nämlich, dass der kleine Marcel jedes Mal zutiefst traurig und erschüttert war, wenn er ein Buch ausgelesen hatte und es samt den Figuren, die ihm ans Herz gewachsen waren, zuklappen musste. „Man hätte so gern gehabt, dass das Buch weiterginge“, erinnert sich Proust später selbst. Vielleicht wurzelt die Konzeption der „Recherche“ als ewiges Buch auch in seinen frühen Leseerfahrungen.

Jedenfalls konnte er „anscheinend keine Romanfigur schaffen, ohne ihr ein Buch in die Hand zu drücken“, schreibt Anka Muhlstein und stellt das durch unterschiedliche Lesegewohnheiten und stark divergierenden literarischen Geschmack charakterisierte Personal der Reihe nach vor. Besondere Aufmerksamkeit erfährt der bizarre Baron de Charlus, der zwischen Realität und Gelesenem (vor allem Saint-Simon) nicht mehr so recht unterscheiden mag. Auch die Madeleine-Episode – die berühmteste der „Recherche“ – unterzieht Muhlstein einer erhellenden Analyse und erkennt in einer Passage aus Chateaubriands „Erinnerungen von jenseits des Grabes“ eine Art Vorläufer.

Das alles hat nichts Ernüchterndes, was man ja befürchten könnte, wenn jemand ein Werk literaturhistorisch und motivgeschichtlich zerpflückt. Schon Proust selbst war Literaturwissenschaftlern gegenüber eher skeptisch eingestellt. Ganz im Gegenteil aber ist die Lektüre der „Bibliothek des Monsieur Proust“ ein heiteres, gewinnbringendes Erlebnis, das Lust auf eine eigene Spurensuche macht. Und ein erneutes oder auch erstmaliges Lesen der „Recherche“ wäre sicher die schönste Wirkung, die diese vielschichtige „Einführung“ erzielen könnte.

Anka Muhlstein: „Die Bibliothek des Monsieur Proust“. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp, Berlin 2013, 150 Seiten, 16,95 Euro