Wenn aus Kranken Bürger werden

Im Dreiländereck existiert ein einmaliges Projekt für chronisch Kranke: So genannte Lebensbegleiter helfen den häufig verunsicherten Menschen, ihre Fähigkeiten zu erkennen. Niederländer sind dabei oft aufgeschlossener als Deutsche

von LUTZ DEBUS

Uitbehandeld heißt es auf niederländisch, chronisch psychisch krank auf deutsch. Genannt werden so Menschen, die nach langer psychiatrischer Behandlung den Status des Behinderten erhalten. Früher bedeutete das für die Betroffenen noch lebenslange Unterbringung in einem Heim. Inzwischen kümmern sich Sozialarbeiter um die passende Wohnform, den passenden Arbeitsplatz, meist in einer beschützenden Werkstatt. Dass diese Menschen eine Geschichte haben, geht aber oft im Alltagsgeschehen der sozialen Institutionen unter. Doch genau um diese Lebensgeschichten bemüht sich ein internationales Fortbildungsprojekt im Dreiländereck von Deutschland, Belgien und den Niederlanden. „Chronos“ wird getragen von zwei belgischen Kliniken, dem Alexianerkrankenhaus in Aachen und dem Psycho-medisch streekcentrum Vijverdal bei Maastricht. Innerhalb von drei Jahren wird man zum „Lebensbegleiter“ ausgebildet.

Bert Huysmans ist einer der Teilnehmer von Chronos. Seit 27 Jahren arbeitet der Krankenpfleger in Vijverdal. Er ist, wie er sagt, für die „chronischen Menschen“ zuständig. Den eher poetischen, doppeldeutigen Sinn dieser Titulierung nimmt er in Kauf. Als Kranke möchte er diese Männer und Frauen, die seit Jahrzehnten in Vijverdal leben, nicht etikettieren. Sicherlich, der Niederländer habe viele positive Veränderungen in seiner Heimat erlebt. 200 chronische Menschen hausten früher in einem Flachbau neben einem neunstöckigen Betonklotz. Inzwischen wohnen die wenigen Übriggebliebenen in schmucken kleinen Häuschen abseits des Klinikgeländes. Viele andere seien in die umliegenden Städte gezogen. Aus den Kranken wurden Bürger. Aber erst jetzt, durch die Fortbildung, erhalte Huysmans die Möglichkeit, die Biographie dieser Bürger zu würdigen.

Während der dreijährigen Ausbildung zum „Lebensbegleiter“ schreibt jeder der Teilnehmenden zusammen mit einem Betreuten ein kleines Buch. Es soll nicht nur von dem Leben der Begleiteten berichten, sondern auch die Geschichte der Begleiter erzählen. Da werden Fotos eingeklebt, Bilder gemalt, Tagebuchaufzeichnungen eingeheftet. Ein Mensch, der lange Zeit nur über seine Krankheit definiert wurde, zeigt plötzlich seine Interessen, Fähigkeiten und seine Geschichte. Aber auch die Mitarbeitenden geben etwas von ihrem Leben, ihrer Geschichte preis. Der Psychiater Detlef Petry, Initiator des Projekts, hat schon viele Parallelen zwischen den Biografien seiner Patienten und seiner eigenen Lebensgeschichte entdeckt. Das schaffe Verständnis und Vertrauen.

Einmal im Jahr werden Mitarbeiter, Kranke und deren Angehörige aus allen drei Ländern eingeladen. Bei diesen Treffen werden die Unterschiede zwischen den Ländern deutlich. Die Belgier und Niederländer duzen sich, die Deutschen, wenn sie nicht miteinander verwandt sind, siezen sich. Aber auch bei manchen Themen gibt es verschiedene landestypische Sichtweisen. Zu Euthanasie und Elektroschocktherapie haben manche Belgier und Niederländer eine viel positivere Einstellung als die deutschen Teilnehmer. Wahrscheinlich, so vermutet Detlef Petry, sei dies durch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen bedingt.

In allen drei Ländern, so Petry, sei aber eine Amerikanisierung der Psychiatrie zu beobachten: Bürokratisierung, starre Behandlungsschemata, Kurzzeittherapien. „Chronos dagegen setzt auf Langsamkeit und schwimmt so voll gegen die Strömung.“ In dem Dreiländereck, in dem die Menschen es gewohnt sind, täglich Grenzen zu überschreiten, könne das Konzept der Lebensbegleitung psychisch kranker Menschen vielleicht am ehesten aufgehen. Detlef Petry verabschiedet die Gäste aus Belgien, Deutschland und den Niederlanden und kann sich einen Vergleich nicht verkneifen: „Lachse kommen ja auch an ihr Ziel.“