Expedition zu einer Legende

Das Essener Theater lässt den Mythos eines alten Arbeiterviertels wieder aufleben – um ihn im nächsten Augenblick wieder zu zerstören. Eine spannende Stadtsafari zur eigenen Geschichte

von ANNIKA JOERES

30.000 Arbeiter vegetierten auf engstem Raum, in Baracken, ohne Leitungswasser, in Spuckweite zu ihrem Arbeitsplatz bei Krupp. Spontane Feste auf der Straße, Gaukler, Schrotthändler, Prostituierte. KommunistInnen hätten das Viertel bewohnt, sagen die einen. Als Hitler kam, hätten die BewohnerInnen ihre Pisspötte vor die Tür gestellt und ihn keines Blickes gewürdigt. Nationalsozialisten seien es gewesen, sagen die anderen. Als der Führer marschierte, hätten alle frenetisch geklatscht, im engen Spalier ein wogendes Meer aus gereckten Armen.

Der Segeroth, ein durch den Zweiten Weltkrieg zerstörtes und in den 1960er Jahren abgerissenes Arbeiterviertel in der Essener Innenstadt, wurde von vielen Menschen vereinnahmt. Aber wie war das Leben dort wirklich? Die Schweizer Theatergruppe Schauplatz International hat sich auf die Suche nach den Mythen des Segeroth begeben. Das Essener Theater hat die mehrfach ausgezeichnete Gruppe ein Stück Stadtgeschichte neu schreiben lassen. Schon im Februar machte das im Herbst neu besetzte Ensemble Furore mit einem Projekt außerhalb der heiligen Theaterhallen: Es ließ Jugendliche aus dem verarmten Stadtteil Katernberg ihre Geschichte, ihre „Homestory“ erzählen. Und jetzt wurde die Geschichte des sagenumwobenen Stadtteils Segeroth im Schatten der Gussstahlfabrik der Firma Krupp inszeniert. Ein spannendes Stück, das mit einem gediegenen Theaterabend in roten Samtsesseln nichts gemein hatte. Zum Glück.

JedeR ZuschauerIn nimmt Teil an einer Expedition in die Geschichte eines Arbeiterviertels, wie es in nahezu jeder industriellen Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existiert hatte. Die Essener Safari beginnt, natürlich, im Bus. Ausgestattet mit Fernrohren sitzen die Theatergäste wie TouristInnen eng beieinander, Reiseführer Olaf lässt die Geschichte in wenigen Bildern aufleben. Zur Linken das FC-Kappes-Stadion, zur Rechten die Eckkneipe, die Moschee, das Pfarrhaus des Viertels, die Hurenstraße. Fast scheint es, als könne der Segeroth nur umkreist und gar nicht mehr erreicht werden, da zeigt sich der verlassene Platz, eine Betonwüste neben einem verwilderten Grünstreifen und der Universität.

Die ZuschauerInnen, Opfer ihrer eigenen Neugier, steigen aus dem Reisebus, klemmen sich auch in kalter Abendluft hinter die schulterhohe Mauer, um die Expeditionstruppe zu beobachten. Ironische Abenteuerberichte erklingen aus dem Zelt, Forscher rennen aufgeregt ums Lagerfeuer. Die echte Geschichte wollen sie finden, die einzig wahre, die authentische. Aus irgendwelchen Büschen zerren sie tatsächlich ehemalige BewohnerInnen: einen Geschichtsprofessor, eine Arbeiterin, eine Sozialpädagogin. Aber ihre Erinnerungen sind zu unspektakulär für die sensationsgeilen Expediteure, und so verschwinden die Ureinwohner in einem Kiosk und können fortan nur noch beim Kaffeeklatschen beobachtet, nicht aber gehört werden.

Gesucht wird ein großer Mythos – zu finden sind aber nur viele einzelne Geschichten. Die Suche nach dem Segeroth führt am Ende zur eigenen Vergangenheit, den Bildern im Kopf. Nach zwei Stunden stehenden Staunens in der Dunkelheit reagiert das Publikum verhalten. Vielleicht war es nur die abendliche Kälte, die die Neugierigen an der Mauer verstummen ließ. Vielleicht fiel es ihnen auch nicht leicht, ihre Mythen zerbröseln zu sehen.

Expeditionen am 4./5./6. Mai, jeweils 20.30 Uhr ab Theatervorplatz