Strahlender Bücherknast

LESEN Es gibt kostenlose Leih-Laptops, Hausaufgabenhilfe auf Türkisch – und bald weist vielleicht gar das Smartphone den Weg zum gesuchten Buch: Die Stuttgarter Stadtbücherei zeigt, wie eine Bibliothek sich als Lernort neu erfindet. Dafür wird sie nun ausgezeichnet

Die Zahl der Ausleihen ist um 30 Prozent gestiegen, die der Anmeldungen um 50 Prozent

AUS STUTTGART KATHRIN HEDTKE

Die Geräte liegen in einem Spind hinter Glas.Wird der Ausweis vor den Scanner gehalten, springt die Tür des Fachs auf. Nicht nur Bücher kann man in der Stuttgarter Stadtbücherei ausleihen, sondern auch 120 Laptops. Ein Service, der gerne von Menschen genutzt wird, die sich keinen Computer leisten können. So wie Larbi El Meddah aus Algerien. Der 28-jährige Asylbewerber hockt mit einem Freund zwischen Bücherregalen auf einem blauen Polster, Laptop auf dem Schoß, Kopfhörer auf den Ohren. „Ich kommuniziere mit meinem Freunden“, sagt Larbi El Meddah. Zu Hause hat er kein Internet, deshalb kommt er viermal pro Woche in die Bücherei. Mit einem Computerprogramm lernt er hier auch Deutsch.

Ein paar Meter weiter befindet sich neben dem Kopierer eine Pinnwand mit bunten Zetteln: Darauf werden Tandempartner zum Sprachelernen gesucht. „In der Stadt kostet sonst alles etwas“, sagt Günther Marsch, der stellvertretende Leiter der Bibliothek. Sein Haus soll ein Ort sein, an dem sich Menschen kennenlernen und treffen. Kein verstaubter Bücherknast.

Auch die Jury des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv) und der Zeit-Stiftung zeigen sich vom modernen Konzept der Stuttgarter Bücherei beeindruckt: Am 24. Oktober wird das Haus als „Bibliothek des Jahres 2013“ ausgezeichnet. Eine hohe Auszeichnung für Bibliotheksdirektorin Christine Brunner und ihr Team: „Ich habe laut gejubelt“, sagt sie.

In der Begründung hebt die Jury hervor, dass die Bücherei schon früh auf das Zukunftskonzept der „Bibliothek als innovativer Lernort“ gesetzt habe. So wird großer Wert darauf gelegt, dass die Nutzer mit den digitalen Medien auch umgehen können. Zum Beispiel gibt es einen „Safer Internet Day“ und es stehen Experten bereit, die unter anderem bei Fragen zum Android-Betriebssystem weiterhelfen. Überall im Haus gibt es WLAN.

In der Bibliothek finden regelmäßige Kulturveranstaltungen statt: Musik, Lesungen, Diskussionen. Für Kinder gibt es ein eigenes Programmheft. Außerdem lesen ehrenamtliche Mitarbeiter Geschichten vor und bieten Hausaufgabenhilfe auf Deutsch und Türkisch an. Dabei darf es mitunter lauter zugehen. Und auch die anderen Besucher müssen nicht immer flüstern.

Damit die Gespräche niemanden stören, wurden auf den Etagen Räume aus schalldichtem Glas abgetrennt. Vor allem Schüler nutzen das Angebot. An einem der weißen Tische sitzen drei Mädchen zusammen, eines tippt auf ihr Smartphone, ein anderes kramt einen Lippenstift hervor. Die drei Freundinnen kommen regelmäßig hierher. „Wir machen Hausaufgaben zusammen“, sagt Leti. In der Schule gehe das nicht, weil nach dem Unterricht die Klassenzimmer abgeschlossen werden. „Außerdem haben wir dort auch keine Lust“, sagt Sema.

Es kommen wesentlich mehr junge Menschen in die Bibliothek, seit der Neubau vor zwei Jahren eröffnet wurde. Bei schönem Wetter fläzen sie sich mit ihren Büchern und Laptops auf Liegenstühlen auf der Dachterrasse. Hier oben bietet sich ein grandioser Blick auf Stuttgarts Weinberge. Die Zahl der Ausleihen ist seit Eröffnung um 30 Prozent gestiegen, die der Anmeldungen um 50 Prozent. „Das ist deutlich höher als ursprünglich prognostiziert“, sagt Brunner.

Dabei wirkt das Gebäude von außen eher klobig und kalt. Ein grauer Klotz vor der Kulisse der Großbaustelle am Stuttgarter Hauptbahnhof, inmitten von Kränen und Stahlgerüsten. Schon von Weitem wird klar, warum einige Bürger dem Würfel den Spitznamen „Bücherknast“ verpasst haben. „Aber wir haben ein probates Mittel dagegen“, sagt Direktorin Christine Brunner. Die Mitarbeiter bieten regelmäßig Führungen an, laufen mit den Besuchern durch alle neun Stockwerke bis hoch auf die Dachterrasse.

Wer die Bücherei betritt, durchquert eine leere, quadratische Halle: 14 Meter breit, 14 Meter lang, 14 Meter hoch. Jeder Schritt erzeugt ein leises Echo. Das große Nichts mit dem kleinen Springbrunnen in der Mitte bildet das Herz der Bücherei.

Ab dem vierten Stockwerk öffnen sich die Etagen zur Mitte hin und bieten einen beeindruckenden Blick auf die unteren Ebenen. Alles ist hell und offen. „Hier oben sind die Kritiker meistens bekehrt“, berichtet Günther Marsch, der stellvertretende Leiter. Die Besucher packen ihre Fotoapparate aus, knipsen aus allen Perspektiven.

Alles im Haus ist schick und weiß. Wer seine Tasche ins Schließfach einsperren möchte, braucht nur seinen Daumen vor einen kleinen Schlitz zu halten – und schon öffnet sich die Tür automatisch. Wer die Orientierung verliert, tippt einfach auf den Touchscreen einer Infosäule und bekommt einen Lageplan. Die Uni Tübingen habe bereits ein System getestet, mit dem der Nutzer von seinem Smartphone direkt zum gesuchten Buch geführt wird, berichtet Günther Marsch. „Das wird sicher eines Tages kommen.“