Eine Bombendrohung als Hilferuf

Seit Jahren hatte Joachim N. kaum noch Kontakt mit Menschen. Er verarmte, lebte aus dem Müll. Als seine Kreuzberger Wohnung zwangsgeräumt werden sollte, drohte er mit einer Bombe. Gestern erhielt er eine Bewährungsstrafe

Es war der 17. November 2005, 8 Uhr, 11 Minuten und genau 7 Sekunden. Von einer Telefonzelle in der Pücklerstraße geht ein Notruf bei der Polizei ein: „Ich habe in der letzten Zeit was gebaut, das geht in die Luft“, sagt der Mann. Laut und deutlich gibt er an: „Mein Name ist Joachim N.“ Dem Anruf folgte ein polizeilicher Großeinsatz: Die Bewohner der Manteuffelstraße 7 mussten ihre Wohnungen verlassen, zwei Schulen und eine Kita wurden evakuiert. Beamte des Landeskriminalamts, vom Sondereinsatzkommando der Polizei und Sprengstoffexperten waren im Einsatz. Das alles, weil ein verzweifelter Mann nicht mehr weiter wusste. Gestern fand der Prozess gegen Joachim N. statt. Störung des öffentlichen Friedens wurde ihm vorgeworfen.

Ein großer Mann mit grauem Pferdeschwanz und Schnauzbart betritt den Sitzungssaal 1.104 des Amtsgerichts Tiergarten. Joachim N. hat sich im Gefängnis einen Bauch angefuttert, vor fünf Monaten war er mager. Kein Wunder: Damals bekam er seit mehr als zehn Monaten keine Sozialhilfe. Den Antrag auf Hartz IV konnte er alleine nicht ausfüllen. „Ich stand einmal vor so einem Haus, wo die einem helfen, aber da war zu.“ Stattdessen durchsucht er Mülltonnen nach Essbarem sowie alten Fernsehern. Die verkauft er und verdient sich drei, vier Euro am Tag. Die Miete kann er davon nicht bezahlen. Im Frühjahr 2005 wird ihm der Strom abgestellt. Nun ist seine Wohnung nicht nur kalt, sondern auch dunkel. Dennoch will er hier nicht raus: Es ist seine erste eigene Wohnung, die der 49-Jährige seit sieben Jahren bewohnt.

Mitte November erfährt er vom Hauswart, dass seine Wohnung wegen der Mietschulden angeblich am 17. November geräumt werden solle. An jenem Morgen beschließt er, nachdem er eine halbe Flasche Wein auf nüchternen Magen getrunken hat, sich Hilfe zu holen. Joachim N. bastelt zwei Bombenattrappen: durchlöcherte Koffer mit losen Kabeln und Handyhüllen. Dann schreibt er einen Brief an die Polizei und legt ihn vor seine Wohnungstür: „Ich bin verzweifelt, ich kann nicht mehr“, steht da mit vielen Rechtschreibfehlern. N. schreibt von zwei Handgranaten und einer Tellermine, deren Wirkung er in Polen getestet haben will. Der Mann trinkt noch eine Flasche Korn und verlässt seine Wohnung.

Noch während die Polizei die Umgebung nach ihm absucht, begeht dieser kurz nach 11 Uhr eine weitere Straftat, an die er sich später nicht mehr erinnern kann: Bei Karstadt am Hermannplatz zeigt er der Verkäuferin Petra R. den Griff einer Plastikpistole, der aus einem Leinenbeutel hervorlugt. Die Pistole hat er in einer Mülltonne gefunden. Er trägt sie bei sich, weil er nachts oft von Jugendbanden bedroht wurde. N. sagt, die Verkäuferin solle den Safe, in den sie gerade Ware einsortierte, offen lassen. Petra R. erschrickt, doch Joachim N. macht keine Anstalten, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Nach einigen Minuten verlässt er ohne Aufforderung und ohne Schmuck das Warenhaus. Vor Gericht entschuldigt sich N. bei der Geschädigten, die wünscht ihm versöhnlich „Viel Glück!“

Nach seinem Kaufhausbesuch wird der Gesuchte am Eingang des Volksparks Hasenheide festgenommen. Im Gefängnis geht es ihm gut, einen Haftprüfungstermin lässt er absagen. Er hat Angst vor seiner winterlich kalten, stromlosen Wohnung.

Die psychiatrische Gutachterin ist erstaunt, „wie wenig soziale Kompetenz Herr N. besitzt“ und bescheinigt ihm für die erste Tat Schuldunfähigkeit. Für die Bedrohung der Verkäuferin will sie ihm das trotz errechneter 2,8 Promille nicht zugestehen. Ein Jahr Freiheitsstrafe zur Bewährung verhängt das Gericht. N. bekommt nun einen Bewährungshelfer, sein Anwalt organisierte einen Platz im betreuten Wohnen. UTA FALCK