hamburger szene
: Namen lesen

Es ist ein Frühlingsmorgen, an dem die ungewohnte Farbe Grün und Vogelstimmen plötzlich überall hervorstechen. Vier durch Lautsprecher verstärkte Stimmen hallen über den sonst leeren Joseph-Carlebach-Platz in Rotherbaum – dort, wo bis 1938 die größte Synagoge Norddeutschlands stand.

Namen und Daten werden von Zetteln abgelesen. Sie gehören 25.000 ermordeten Hamburger Juden, Sinti, Roma und Widerstandskämpfern, die nicht in Vergessenheit geraten sollen.

Geboren, ermordet, geboren, ermordet … So soll das weitergehen, zwölf Stunden lang. Ein Mann mit riesigem weißen Bart und einer Lidl-Tüte in der Hand geht quer über den Platz. Unter den nahen Bäumen hört eine junge Frau der endlosen Namenskette zu. Wie ein geflüsterter Brei von Orten, Zahlen und Familien mischen sich die Worte, manche vom Wind in eine andere Richtung geweht. Eine Joggerin und ein Skateboarder auf dem Bürgersteig, am Rande des Geschehens, rauschen vorbei.

Die 80-jährige Frau Cohn liest die Namen ihrer ganzen Familie vor. Sie hatte früher blonde Haare und hat noch immer blaue Augen. Herr Lischke gedenkt dreier jüdischer Schwestern, seine ehemaligen Lehrerinnen. Er selbst war Hitler-Junge.

Die Namen passen gut zu dem Platz, weil sie ihm irgendwie eine Zugehörigkeit geben. Mehr als die Gedenktafel am Haus gegenüber. Es ist gut, dass die Namen nicht in einem Raum verhallen oder unter Wolkenhimmel gesprochen werden, sondern in einem Stadtfrühling, der gerade erst anfängt. Neben einer Straße mit Cafés und parkenden Autos.ANNA NIEWELER