Invalide mit 25 Jahren

Pavel Lukaschow, einst Liquidator und „Held der Werktätigen“, muss mit schweren Gesundheitsschäden leben. Er hat kein Geld für Medizin

GOMEL taz ■ Er liebte das Leben – und ganz besonders seine Frau. Ungeduldig strich Pawel Lukaschow jeden Tag aus dem Kalender: Ende Oktober würde er aus der Roten Armee entlassen. Dann könnte er endlich zu ihr ziehen.

Doch fünf Monate vorher wurde Lukaschow nach Tschernobyl abkommandiert. Zuerst musste seine Kompanie Chemikalien auf die Straßen kippen, die angeblich Radioaktivität binden kann. Später half er beim Bau des Sarkophags und fuhr einen Betonmischer. „Den Wagen haben sie später vergraben. Der war völlig verseucht.“ Die Soldaten bekamen zusätzliche Rationen Schokolade. Wein und Wodka sollten gegen Radioaktivität helfen. Und weil er die Gefahr weder spüren noch sehen konnte, machte sich Lukaschow nicht allzu viele Sorgen. Jeden Tag erhielten die Liquidatoren – so die offizielle Bezeichnung der Helfer – saubere Kleidung. Den Berechtigungsschein dafür hat Lukaschow neben andere Erinnerungsstücken in ein plüschbezogenes Album geklebt.

Im Oktober 1986 heftete sein Vorgesetzter einen Blechorden an seine Brust. Die zugehörige Urkunde weist ihn als „Held der Werktätigen“ aus. „Die Ärzte sagten damals, wir dürfen drei Jahre lang keine Kinder zeugen“, erinnert sich der heute 39-Jährige. Fast hat er sich daran gehalten; seine Tochter ist inzwischen 17 Jahre alt, der Junge acht.

Es dauerte nur ein paar Monate, bis Lukaschows Gesundheitsprobleme begannen. 1991 konnte er nicht mehr arbeiten: Mit 25 Jahren war er zum Vollinvaliden geworden. „Bei mir ist eigentlich alles kaputt: Muskeln, Knochen, Leber, Nerven. Und die Hirngefäße.“ Auch seine Kinder sind krank. Das Mädchen muss dauernd zum Arzt, weil ihre Nieren nicht funktioniert. Der Junge leidet unter Immunschwäche.

Von seinen alten Geschichten und den Orden will die Familie nichts mehr wissen. Auch deshalb trifft sich Lukaschow mit den anderen Männern vom Selbsthilfeverein „Invaliden des Atomreaktors Tschernobyl“. Anfang der Neunzigerjahre im weißrussischen Gomel von 750 Männern gegründet, sind heute nur noch 300 dabei. „Die meisten sind gestorben. Weggezogen sind die wenigsten“, erläutert der Vereinschef Alexander Lukowski. Auch Selbstmorde habe es gegeben, murmelt er.

Immer weniger schaffen regelmäßig den Weg zum Vereinshaus – eine alte Kate. Neben dem Eingang haben die Männer einen kleinen Raum für den Arzt eingerichtet. Der kommt gelegentlich, um die Vereinsmitglieder gegen ein Trinkgeld medizinisch zu beraten. Umgerechnet 80 bis 200 Euro Rente beziehen die einstigen „Helden der Werktätigen“ im Monat; zu wenig, um die nötigen Medikamente zu kaufen. Und an Operationen ist schon gar nicht zu denken. Der Vereinsvorsitzende Lukowski bräuchte dringend einen zweiten Bypass. Doch wie soll er den bezahlen? Drei Jahreseinkommen würde der Eingriff den 60-Jährigen kosten. Doch das Geld hat er nicht. ANNETTE JENSEN