Trauer, in eine Kiste gepackt

TOD Was tun, wenn Mama oder Papa, Bruder oder Schwester nie mehr wiederkommen? Simone Rönick und ihr Verein TrauerZeit bieten Hilfe für Kinder und Jugendliche, die mit dem Verlust klarkommen müssen. Doch die einzigartige Einrichtung braucht dringend Geld

■ Kindertrauergruppen (ab 3 Jahren sowie ab 8 Jahren) sowie Trauergruppen für Jugendliche (ab 12 Jahren) treffen sich derzeit jeweils einmal im Monat in den Räumen von TrauerZeit e. V. Das „Zentrum für trauernde Kinder und Familien Berlin Brandenburg“ befindet sich in der Ueckermünder Straße 1 in Prenzlauer Berg. Auch Einzelgespräche und Kriseninterventionen sowie Beratungen für trauernde junge Familien bietet der gemeinnützige Verein an. Das Angebot soll weiter ausgebaut werden – sofern es die Spenden- und Sponsorengelder zulassen.

www.trauerzeit-berlin.de

VON ANNA KLÖPPER

Die kleine Kiste in der Ecke wirkt unscheinbar. Quadratisch, ein Bezug aus dunkelrotem Leder, in der Mitte ein Loch. Die kleine Kiste ist wichtig. „Das ist unsere Schreikiste“, sagt Simone Rönick. „Da können die Kinder ihren ganzen Frust, ihre Wut hineinbrüllen.“ Die Wut der Kinder ist eigentlich oft Hilflosigkeit, ein Hilferuf, Trauer. Weil Mama oder Papa, Bruder oder Schwester nie mehr wiederkommen werden. Mal ist ein Autounfall schuld, oft Krankheit, seltener Suizid. Verlust schmerzt. Und wer Schmerzen hat, der schreit eben. Manchmal auch ganz laut.

Seit vier Jahren leitet die ausgebildete Trauerbegleiterin und Therapeutin Simone Rönick TrauerZeit e. V., ein Zentrum für trauernde Kinder und Familien in Prenzlauer Berg. Viele Kinder, die zu den monatlich stattfindenden, altersgestaffelten Trauergruppen – das Wort „Therapie“ mag Rönick nicht – kommen, sind Halbwaisen, manchmal hat ein Kind auch beide Elternteile verloren. Fünf bis zehn neue Anfragen, sagt Rönick, erhalte sie jede Woche – Überweisungen von Ärzten, von Seelsorgern, von schulpsychologischen Diensten. Oft rufe ein Elternteil an, ältere Kinder und Jugendliche meldeten sich auch selbst.

Plötzlich absolute Stille

Mascha ist 15, vor etwas mehr als einem Jahr hat sie ihren Vater verloren, ein Gehirntumor. Da war sie gerade als Austauschschülerin in den USA. Als ihr Vater im Sterben lag, kam sie vorzeitig zurück, und als er dann tot war, war nichts mehr wie zuvor. Dass sie mit niemandem richtig über den Verlust ihres Vaters sprechen konnte, sagt Mascha, „das war das Schlimmste“. Mit ihrer Mutter verstand sie sich nicht, die Freunde wussten nicht, was sie sagen sollten. Einmal kam Mascha etwas zu spät zum Unterricht, „und plötzlich herrschte absolute Stille, als ich hereinkam. Da wusste ich, dass meine Klassenkameraden über mich geredet hatten.“ Mascha fühlte sich noch einsamer.

Schließlich stieß sie im Netz auf die Seite von TrauerZeit, vor sechs Monaten bekam sie einen Platz in einer Jugendtrauergruppe. Dort fand Mascha Tina. Tina, ebenfalls 15, hat auch keinen Vater mehr – eine Herzkrankheit. „Es war klar, dass er sterben würde.“ In der Trauergruppe, sagen beide, hätten sie zum ersten Mal über den Tod reden können, ohne dabei das Gefühl zu haben, sich schämen zu müssen, „weil ich mein Gegenüber damit jetzt überfordere“, sagt Mascha.

Das Tabuthema Tod, das so oft unbeholfenes Schweigen hervorruft, artikulieren. Den Verlust immer wieder erzählen, erinnern, so dass man ihn irgendwann vielleicht annehmen kann. Und dann ist die Trauer weg? Nein, sagt Rönick, einfach so wegtherapieren, verdrängen könne man den Tod nun mal nicht. Im Gegenteil: Man müsse lernen, die Lücke in das eigene Leben zu integrieren, das nun einmal gnadenlos weitergeht.

Rönick deutet auf eine Wand, an der entlang bunt beklebte Kartons gestapelt sind: Schuhkartons? „Erinnerungskisten“, sagt die 48-Jährige. Fotos der Verstorbenen haben die Kinder da hineingelegt, ein Tuch von der Mutter, die letzte Zahnbürste vom Vater. Oft setzten sie sich mit den Kindern zusammen, sagt Rönick, in einem großen Kreis auf dem Fußboden, und dann zeigten sich die Kinder gegenseitig ihre Schätze. „Die Verstorbenen sollen in der Erinnerung weiterleben dürfen“, sagt Rönick – zu einer Art innerem Begleiter werden. Gerade das gemeinsame Erinnern in der Gruppe unter Gleichaltrigen sei wichtig, betont sie.

Kein Bedarf, so der Senat

Hospizdienste betreuen meist nur hinterbliebene Eltern oder Geschwisterkinder. Es gibt zwar geschulte Psychologen und Krisenhotlines, etwa das Berliner Kinder- und Jugendtelefon, doch altershomogene Trauergruppen für Kinder sind selten. In Berlin ist TrauerZeit, das seine Räume in einer ehemaligen Arztpraxis unweit des S-Bahnhofs Bornholmer Straße hat, das einzige Angebot dieser Art.

„Wir haben in den letzten Jahren viel Energie investiert, altersspezifische Angebote für trauernde junge Menschen aufzubauen“, sagt Rönick. Mittlerweile ist das Trauerzentrum gut vernetzt, mit Psychologen, Arztpraxen, Krisendiensten – so gut, dass die schmale Frau mit dem offenen Lachen die meisten Hilfesuchenden mittlerweile nur noch auf Wartelisten setzen kann. Rönick ist als einzige fest angestellt, selbst für Honorarkräfte – eine Clownin für die Kindertrauergruppe, ein Sozial- und ein Medienpädagoge – ist das Geld knapp. Das Gerangel um die Fördertöpfe bei Stiftungen ist hart, öffentliche Gelder bekommt der Verein nicht.

„Die Verstorbenen sollen in der Erinnerung weiterleben dürfen“

SIMONE RÖNICK, TRAUERZEIT

Man sei gut aufgestellt mit entsprechenden Hilfeeinrichtungen wie Familienberatungsstellen oder psychosozialen Diensten für Kinder und Jugendliche, heißt es aus der Senatsverwaltung für Jugend. „Derzeit signalisieren uns die zuständigen Jugendämter in dieser Hinsicht keinen Mehrbedarf“, sagt Sprecher Ilja Koschembar. „Da muss man natürlich überlegen, ob man Steuergelder einsetzen will, um auch noch private Einrichtungen zu fördern.“

Rönick hingegen bezweifelt, dass es keinen Mehrbedarf gibt. 19 Teenagertrauergruppen und noch einmal 16 Gruppen für jüngere Kinder hat sie voriges Jahr betreut, bis zu 10 Kinder oder Jugendliche nimmt sie pro Gruppe auf. Sie hätte mühelos noch weitere Gruppen aufmachen können, sagt Rönick. Doch ihr Trauerzentrum finanziert sich eben notgedrungen über private Förderer und Spenden – die nicht ausreichten, um das Angebot an die Nachfrage anzupassen.

Tina kichert. Ihre Freundin Mascha hat sich eine blaue Perücke aufgesetzt, die beiden blödeln herum. Heute sind sie bloß zu dritt, außer den beiden ist nur noch die 18-jährige Inga da, die ebenfalls ihren Vater verloren hat. Die drei haben kleine Engelfiguren aus Glas für die Erinnerungskisten bemalt, mit Federn als Flügeln. Tina, die heute Geburtstag hat, hat ihrem Engel kurzerhand Tigerstreifen verpasst. Darüber lachen sich die Mädchen jetzt schlapp. Überhaupt, überlegt Mascha, werde hier eigentlich viel gelacht.

Doch die Unbeschwertheit ist oft hart erkämpft – und es braucht Zeit, bis sie wieder da sein kann. Sechs bis zwölf Monate blieben die Kinder im Schnitt in den Trauergruppen. Am Anfang, sagt Rönick, „wissen viele Kinder erst mal gar nicht, wohin mit sich und ihren Gefühlen“. Sie zeigt auf einen Satz Schwimmnudeln aus Styropor: „Manche toben sich damit richtig aus, bis sie nicht mehr können.“ Bis die Luft zum Reden fehlt, weil sie zunächst vielleicht sowieso keine Worte für die Trauer finden.

Simone Rönick weiß nicht genau, wie lange sie den Kindern noch dabei helfen kann, dass sie die Worte am Ende dann doch finden. Für das kommende Jahr klafft noch eine ordentliche Finanzierungslücke. Als sie die Schreikiste in die Hand nimmt, sieht sie fast so aus, als wolle sie einmal laut hineinbrüllen.