Das gute Omen in der Bahn

Anleitung für amerikanische Autoren auf Lesereise durch Deutschland: über die Schwierigkeiten mit großen Doppelgängern, übertragenen Fußballspielen und die deutsche Lust an Vorlesern. Eine Selbsterfahrung im deutsch-französischen Vergleich
von JOHN GRIESEMER

Volle Deckung: Er war auch Amerikaner. Er war in Talkshows,in den Nachrichten, in Fernsehshowszu sehen. Er war einfach überall!

Lieber amerikanischer Autor,

dein Verleger hat dir gesagt, dass du eine Lesereise durch Deutschland machst. Gratuliere. Dir steht die Reise durch ein Land bevor, wo die Leute tatsächlich Bücher lesen, wo sie Interesse an den Autoren haben und gut vorbereitet zu den Lesungen kommen. Schockierend, ich weiß. Ganz anders als in den Staaten.

Lieber Autor, du wirst in Deutschland eine angenehme Reise und anregende Abende haben. Doch du musst vorbereitet sein.

ZUGFAHRT: Die Deutschen mögen über Die Bahn klagen, doch sie ist unendlich viel besser als unser heruntergekommenes, vor sich hin vegetierendes Eisenbahnwesen. In Deutschland fahren die Züge schnell und sind oft pünktlich. Und außerdem halten die Züge außergewöhnliche Überraschungen bereit.

Als ich letzten Monat nach Deutschland flog, wo ich aus meinem Erzählungsband „Roy auf dem Dach“ las, traf ich morgens in Frankfurt ein und musste mich beeilen, um meinen Zug nach Leipzig noch zu erwischen. Trotz Jetlag fand ich den Bahnhof, das richtige Gleis, meinen Waggon, den für mich reservierten Platz. Dann ließ ich mich auf den Sitz fallen. Obwohl meine Lesereise noch nicht begonnen hatte, war ich bereits erschöpft.

Doch als der Zug den Bahnhof verließ und ich aus dem Fenster starrte, sah ich, dass direkt vor meiner Nase etwas an der Scheibe hing. Es war ein kleiner ovaler Aufkleber. Darauf stand nur ein einziges Wort: „Bestseller.“

Was für ein tolles Omen für einen Autor. Es war einer dieser kleinen Sticker, wie sie von Verlagen auf Bestseller geklebt werden. Aber wer hatte genau diesen Sticker an genau dieses Fenster geklebt? Wo er im Zug doch jede Menge Fenster zur Auswahl gehabt hätte. Wollte mich Hartmut Mehdorn, der Vorstandsvorsitzende der Bahn, in Deutschland willkommen heißen und sich gegenüber den Künsten als freundlich erweisen?

Wahrscheinlich nicht, doch es war ein so glücklicher Zufall, dass ich den Aufkleber in mein Brillenetui steckte und ihn dort aufbewahrte. Wenn ich auf der Lesereise abends meine Brille hervorholte, um dem Publikum etwas vorzulesen, sah ich jedes Mal das Wort „Bestseller“.

SCHLIESS FRIEDEN MIT DEINEM DOPPELGÄNGER: Auf allen Lesereisen in Deutschland hatte ich einen Doppelgänger. Lieber Autor, darauf solltest du dich gefasst machen. Dein Doppelgänger wird ständig mit dir um die Gunst des Publikums streiten. Du darfst weder deine Gelassenheit noch deine Entschlusskraft verlieren. Dein Doppelgänger wird dich vielleicht quälen, doch du wirst dein treues Publikum haben. Dieses Publikum darfst du nicht enttäuschen.

Mein erster Doppelgänger war groß und lautstark. Er war auch Amerikaner. Ich las aus meinem Roman „Rausch“. Überall, wo ich hinkam, war auch er. Wenn ich abends nach meiner Lesung ins Hotel zurückkehrte und den Fernseher einschaltete, war dieser andere Amerikaner auf seiner Lesereise durch Deutschland zu sehen: der große, lautstarke Michael Moore. Er rührte im ganzen Land die Werbetrommel für sein Buch „Volle Deckung, Mr. Bush“. Er war in Talkshows, in den Nachrichten, in Fernsehshows zu sehen. Er war einfach überall! Er hatte ein großes, lautstarkes Publikum in den Studios und Millionen von Menschen, die ihn sich zu Hause ansahen, darunter auch ich, allein in meinem Hotelzimmer. Als ich zu einer Lesung aus meinem Roman eintraf, erzählten mir die Organisatoren glücklich, Michael Moore sei zwei Tage zuvor da gewesen, und es seien siebenhundert Leute gekommen.

„Toll“, sagte ich.

„Heute Abend kommen aber nicht so viele“, sagten die Organisatoren. „Nicht mal annähernd.“ Sie schienen nicht zu merken, was für ein Dämpfer das für mich war.

DOPPELGÄNGER (Zweiter Teil): Bei meiner zweiten Lesereise in Deutschland für das Buch „Niemand denkt an Grönland“ war Frank Schätzing mit seinem Roman „Der Schwarm“ mein Doppelgänger. Ich habe ihn selbst nie zu Gesicht bekommen, doch sein Buch sah ich überall. Ich machte mir Sorgen, dass für mein Buch in den Buchhandlungen kein Platz mehr wäre.

Mehr als einmal hörte ich, dass Herr Schätzing unglaubliche Lesungen veranstaltet. Er benutze Musik, Film und Video, erzählte mir jemand. „Ein beeindruckendes Erlebnis“, sagten mir die Leute. „Toll“, sagte ich dann.

Und dann stand ich allein da und las aus meinem Buch, mein Begleiter, mein Übersetzer las auf Deutsch, und wir hatten immer viel Spaß – ohne Musik, ohne Videos –, nur wir beide und das Publikum, das wegen uns gekommen war. Keine große Schar, aber dennoch unser treues Publikum.

ERWARTE NICHT DASSELBE VON DEN FRANZOSEN: Lieber amerikanischer Autor, vielleicht wird dein Buch auch in Frankreich herausgebracht. Toll, doch die Franzosen werden dafür sorgen, dass du die Deutschen schätzen lernst.

Rausch erschien auch in Frankreich. Ich flog nach Frankreich, um für das Buch zu werben. Ich dachte an meine schöne Reise durch Deutschland und sagte meiner französischen Lektorin, dass ich gern durchs Land reisen, aus dem Buch lesen und meinen Lesern begegnen würde.

„Non“, sagte sie.

„Wirklich nicht?“, fragte ich.

„Non, Monsieur Griesemer. Das ist sinnlos. Total, absolut und in jeder Hinsicht sinnlos.“

Meine Lektorin war so herzlich und freundlich gewesen, doch durch dieses Gespräch über die Lesereise erschien sie mir plötzlich kühl und kurz angebunden.

„Sinnlos?“, fragte ich.

„Wir Franzosen mögen keine Lesungen.“

„Nein?“

„Wir lesen gern“, erklärte sie mir ganz langsam, „aber wir mögen keine Lesungen. Zu einer Lesung würden wir einfach nicht kommen!“ – inzwischen brüllte sie fast und streckte den Finger in die Luft – „Keiner würde kommen. Kein Einziger. Sie würden ohne Publikum lesen. Das wäre Ihnen bestimmt peinlich.“

„Wirklich? Wird ihnen mein Buch gefallen?“

„Oui. Ihr Buch wird ihnen gefallen. Sie haben bloß keine Lust, Sie daraus vorlesen zu hören.“

Die Franzosen mochten mein Buch. Aber nicht so sehr wie die Deutschen. Und ich mag die Franzosen. Aber nicht so sehr wie die Deutschen.

GEGEN FUSSBALL STEHST DU AUF VERLORENEM POSTEN: Lieber Autor, wenn du schon bald nach Deutschland fliegst, hast du vielleicht ein Problem.

Auch wenn ich die Deutschen als Leser mag, mache ich mir doch Sorgen, dass sie während der Fußballweltmeisterschaft in ihrem Land zeitweiligem Wahnsinn verfallen und den Büchern, dem Lesen und den Autoren entsagen könnten.

Auf meiner letzten Lesereise musste ich es eines Abends mit einem Fußballspiel aufnehmen. Ich werde den Namen der Stadt nicht nennen, doch es war eine hübsche Kleinstadt mit einer hübschen Buchhandlung, deren Personal viel Werbung für meine Lesung gemacht hatte. Aber unsere deutsch-amerikanische Lesung konkurrierte an jenem Abend mit einem deutsch-amerikanischen Fußballspiel. Und was noch wichtiger war, das Schicksal des deutschen Nationaltrainers Jürgen Klinsmann hing von dessen Ergebnis ab.

Aus den Schlagzeilen der Zeitungen und Gesprächen mit Leuten erfuhr ich, dass Herr Klinsmann in Deutschland ein paar scharfe Kritiker hat, die nicht damit einverstanden sind, dass er in Kalifornien lebt.

Dazu habe ich keine Meinung. Ich wohne an der Ostküste der Vereinigten Staaten, auf halbem Weg zwischen Herrn Klinsmanns Wohnort und seiner Arbeit. Leider mischte sich Herr Klinsmann an jenem Abend in meine Arbeit ein. Herrn Klinsmanns Spiel begann um die selbe Uhrzeit wie meine Lesung. Ich versuche, nicht an die Anzahl der Leute zu denken, die an jenem Abend im Publikum saßen. Lieber Autor, sie war ziemlich gering. Eine Hand voll Frauen und ein einziger Mann. Alle anderen Bewohner der Stadt sahen sich das Spiel an.

Dennoch war es eine ausgezeichnete Lesung, und im Anschluss gab es eine lebhafte Diskussion. Als mein Übersetzer und ich danach ein örtliches Gasthaus aufsuchten, entschuldigte er sich kurz und rief auf seinem Handy einen Freund an, um das Ergebnis des Spiels zu erfahren.

Als er mir sagte, dass Amerika verloren hatte, wirkte er besorgt. Ich musste lachen. Amerikanern macht es nichts aus, wenn ihre Fußballmannschaft ein Spiel verliert. Das ist ihnen völlig egal. Schon immer.

Doch die Deutschen, die ich sah, wirkten unglücklich. „Wir haben schlecht gespielt“, sagten mir alle. Ist mit Klinsmann alles in Ordnung?, fragte ich mich. Wird er seinen Job behalten? Da war sich niemand sicher.

Ich weiß nicht, wie es inzwischen um Klinsmann bestellt ist. Ich weiß nur, dass Klinsmann bei meinem Rückflug nicht im selben Flugzeug saß. Vermutlich ist er noch Nationaltrainer.

Hinweis: JOHN GRIESEMER, Jg. 1947, Autor der Romane „Rausch“ und „Niemand denkt an Grönland“, lebt mit Familie in New Hampshire.