Stein oder nicht Stein

In Annenwalde tobt ein Kulturkampf: Die uckermärkischen Dorfbewohner wollen endlich eine asphaltierte Straße, die Zugezogenen streiten für die historische Feldsteinallee

VON JOSEFA WITTENBORG

In Densow biegen wir von der Landstraße zwischen Templin und Lychen ab. Nur ein Schild, „Straßenschäden“. Doch was jetzt kommt, ist mit dieser Ankündigung nicht korrekt beschrieben. Der Bus schwankt, es wird laut. Die Schüler schreien, um sich verständlich zu machen. Wehe dem, der jetzt keinen Sitzplatz hat, denn der Fahrer rast mit kaum verminderter Geschwindigkeit durch die Lindenallee. Zwischen den knorrigen Bäumen taucht links das Dorf hinter den Hügeln auf. Jetzt wird gebremst. Ein gelber DHL-Wagen prescht uns entgegen. Er weicht auf den Sandweg neben der alten Pflasterung aus und quetscht sich vorbei. Wir erreichen die ersten Gärten und das Ortsschild von Annenwalde. Die Lindenallee setzt sich im Dorf fort. Der Bus fährt in die Wendeschleife vor der apricotfarbenen Kirche und hält.

Auf der Bank an der Bushaltestelle trifft man vormittags die älteren Herren des Dorfes. Im Schatten der Linden tauschen sie Neuigkeiten aus. Wenn das Thema auf die Pflasterallee kommt, schwillt der Geräuschpegel im sonst so stillen Ort erheblich an. Tenor: Man fühlt sich diskriminiert. Weil diese Straße noch immer nicht asphaltiert ist. Und wer ist daran schuld? Die Zugezogenen. Die Berliner vor allem. Die denken sich alles Mögliche aus, um die lang ersehnte ordentliche Straße zu vereiteln. Die wissen, wie sie’s machen müssen, heißt es nicht ohne Hochachtung. Wiegeln die Journalisten auf, bemalen ihre Bettlaken und produzieren sich in der Stadtverordnetenversammlung. Ergebnis: Man muss sich weiter die Stoßdämpfer ruinieren.

Doch die Herren erhielten Anfang November letzten Jahres eine gute Nachricht. Der für die Allee zuständige Kreis Uckermark beschloss das scheinbar längst Überfällige. Trotz Haushaltsloch von fast 40 Millionen Euro, trotz der absehbaren Beschädigung der Bäume, trotz der kulturhistorischen Bedeutung des alten Pflasterweges: Die Annenwalder kriegen ihre Teerstraße. Mit drei Ausweichbuchten. Dafür sollen mindestens sechs Linden auf der nur 700 Meter langen Allee fallen, hieß es. Die Untere Naturschutzbehörde hat die Genehmigung erteilt. Manches Gesicht im Dorf hellte sich auf.

Die Alteingesessenen wünschen sich ein ganz „normales Dorf“, Haustüren aus dem Baumarkt und bunt glasierte Dachziegel. Wie die Menschen anderswo auch. Vor allem wollen sie eine richtige Straße für ihre Autos. Sie haben die Nase voll von Geschichte. Schon zu DDR-Zeiten sollte die kleine Ortschaft mit ihren kaum hundert Einwohnern zum uckermärkischen Vorzeigedorf werden. Annenwalde ist ein Beispiel für preußische Siedlungspolitik. Friedrich II. förderte die Absichten des Unternehmers Johann Friedrich Zimmermann, eine Glasmanufaktur in der Feldmark zu gründen. Im Jahre 1754 wird die bis heute gut erhaltene Arbeitersiedlung nahe Templin in einem halben Jahr aus dem Sandboden gestampft. Herr Zimmermann holt einige „ausländische“ Familien (Sachsen, Mecklenburger, Pfälzer und Thüringer) und nennt das Dorf zu Ehren seiner Frau Anna-Margaretha „Annenwalde“. 111 Jahre lang wird hier grünes Gebrauchsglas produziert. 1835 stiftet der König dem Dorf eine Kirche nach Plänen von Schinkel. Anfang des letzten Jahrhunderts lässt der Gutsbesitzer Heinrich die Lindenallee ins benachbarte Densow mit Feldsteinen pflastern. Seit 93 Jahren widersteht diese Straße den Belastungen von Lkws, Bussen, Landmaschinen, Panzern, Autos und funktioniert sogar im jetzigen Zustand noch passabel.

Die Frontlinie zwischen Gegnern und Befürwortern einer Teerstraße verläuft bis auf wenige Ausnahmen zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen. An der Spitze der Bitumenfraktion stehen die Bürgermeisterin Karin Hockauf und ihr Mann Herbert. Die frühere Lehrerin lehnt jegliche Maßnahme ab, die geeignet ist, den besonderen Charme des Dorfes zu erhalten. Möglicherweise hat sie Anhänglichkeit an ihr altes Berufsfeld bewogen, die neue wie auch die Alte Schule zu kaufen. Letztere ist ein verwitternder, leer stehender Fachwerkbau gegenüber der Kirche. Die Fensterläden sind abgenommen, hinter den Scheiben hängen löchrige Gardinen. Das denkmalgeschützte Haus ist eines der größten im Ort und das ehemals repräsentativste. Hier wohnte Frau Henrici, Tochter der Namenspatronin des Dorfes. Zwischen 1882 und 1915 diente es als Schule, daher der Name. Die Bürgermeisterin und ihr Mann klagen sich seit einigen Jahren durch alle Instanzen, um es abreißen zu dürfen. Bislang vergeblich. Doch noch haben die beiden nicht verloren, Zeit und Witterung arbeiten für sie.

Im Jahr 1998 versucht das Landesdenkmalamt, dem Dorf aufgrund seiner einmaligen historischen Bausubstanz die Denkmalbereichssatzung zu verleihen, auch Ensembleschutz genannt. Die Einwohner sollen darüber abstimmen. Wer bis dahin nicht weiß, was Ensembleschutz bedeutet, wird von Karin Hockauf persönlich aufgesucht oder per Postwurfsendung schriftlich in Kenntnis gesetzt: „Verdrängung der ansässigen Bevölkerung“, „Enteignung“, „Wertminderung“. „Wer will in einem Ort leben, der in der Zeit des Mittelalters gehalten wird bzw. dorthin versetzt und zur Schau gestellt, der einen Großstadtverkehr hat und Verhältnisse, die bestenfalls für Ochsenkarren geeignet sind?“, fragt sie. In Annenwalde wollte das bis auf eine Person niemand. Wirkliche Aufklärung war danach auch nicht mehr gefragt. Angehörige der Unteren Denkmalschutzbehörde, die zur Diskussion in die Gaststätte Kleine Schorfheide kamen, wurden regelrecht niedergebrüllt. Das Projekt musste ad acta gelegt werden. Der Ensembleschutz hätte nicht nur den Erhalt der Dorfstruktur und der Alten Schule gesichert, sondern auch die Umgebung unter Schutz gestellt. Die Annenwalder meinen, ihre Rechte bewahrt zu haben.

Helmut Stützer ist vor drei Jahren von Bonn nach Annenwalde gezogen. Der frühere Schriftsetzer führt am Wochenende Touristen um den See und zeigt ihnen die Landschaft, die seit ein paar Jahren von Bibern umgekrempelt wird. Mit erstaunlichem Hintergrundwissen und rheinischem Charme macht er die kleine Wanderung zum Erlebnis. In der übrigen Zeit betreut er ein kleines Grüppchen Heidschnucken, das hinter seinem Haus weidet. Die „Initiative LindenSteine“ war Stützers Idee. LindenSteine ist eine Gruppe von Annenwaldern, die sich seit Herbst vergangenen Jahres für den Erhalt der Lindenallee einsetzt. Vom Leserbrief über eine Petition im Kreistag bis zur Unterschriftensammlung und zum Auftritt im RBB Lokalfernsehen – Stützer hat fast alles probiert. Doch das Bauamt in Prenzlau blieb unerbittlich. Der Asphaltierungsbeschluss sollte trotz leerer Kassen so schnell wie möglich umgesetzt werden. Geld für den Straßenbau scheint noch reichlich zu sprudeln.

In der Initiative LindenSteine ist Frau Jeromin die einzige Alteingesessene. Alle anderen sind Zugezogene, die meisten mit dem großen W auf der Stirn. W wie Westdeutschland. Seit Jahren liefern sich die Alteingesessenen mit den Zugezogenen eine mehr oder weniger offen ausgetragene Schlacht. So mancher Reifen wurde schon zerschnitten. Frau Jeromin wurde in Annenwalde geboren, lebte aber auch einige Jahre in Berlin-Lichtenberg, wo sie ihre Kinder jeden Morgen mit der Straßenbahn nach Karlshorst zur Schule brachte. Frau Jeromin vibriert vor Kreativität und Energie. Das ist fast unglaublich angesichts ihres Tagesablaufs, der morgens um vier Uhr beginnt. Dann trägt sie den Uckermark-Kurier in Annenwalde und den Nachbardörfern aus, im Sommer mit dem Fahrrad. Um acht bringt sie ihren behinderten jüngsten Sohn zur Schule. Frau Jeromin hat angekündigt, sich an einen Baum zu ketten, wenn die Kreisstraßenmeisterei mit der Säge kommt. Die Idee wurde in der Initiative diskutiert, aber verworfen. Zu große logistische Probleme.

Wenn Herr Sajons und seine Freundin im ferrariroten Sportwagen durch das Dorf cruisen, blicken die Leute auf. Oliver Sajons ist Mitte 20 und Mitglied der CDU. Seine Eltern betreiben ein Lebensmittel- und Getränke-Center im Dorf. Im September 2003 wurde Sajons in den Ortsbeirat gewählt. Seine erste Maßnahme war, die Leinenpflicht für Hunde durchzusetzen, obwohl es bis dahin nie einen Vorfall gab. Herr Sajons hat eine besondere Begabung: Beim traditionellen Erntefest tritt er als Moderator der Bühnenshow auf und entwickelt hinreißenden Charme. Von den Milmersdorfer Lerchen über die Playback-Show bis zur Dessous-Parade wird von ihm alles unterhaltsam angekündigt. Die Bühne ist Sajons Element und das Erntefest der Höhepunkt des Jahres in Annenwalde. Ohne Oli wäre es nur halb so schön. Man kann sich schon vorstellen, warum er sich eine geteerte Allee wünscht: Im jetzigen Zustand ist sie eine Beleidigung für sein Auto.

Frau Meyer ist eine von den Berlinerinnen. Vor zwei Jahren kaufte sie ein Häuschen mit Garten am Waldrand. Dort haben ihre zwei Pudel allen Auslauf, den sich ein Hund nur wünschen kann. Der braune Pudel bezeugt ihr immer und überall tiefe Ergebenheit. Doch der kleinere Schwarze ist aufständisch und bringt sie aus der Fassung, wo er nur kann. Frau Meyer ist Englisch-Übersetzerin und begeisterte Gärtnerin. In kürzester Zeit wurde unter ihren Händen aus dem verwilderten Garten eine Anlage, die sich mit den Beeten einer botanischen Lehranstalt messen kann. Aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers hat Frau Meyer einen Panoramablick auf die Allee: eine schnurgerade Linie durch die hügelige Landschaft. Frau Meyer liebt die alten Bäume, und der Gedanke, dass Teile der Linie der Säge zum Opfer fallen sollen, hat sie so wütend gemacht, dass sie sich bereit erklärte, den Rechtsanwalt zu bezahlen, der im Namen des BUND Einspruch gegen die Planungen des Kreises Uckermark erhoben hat.

Die andauernden Proteste, Eingaben, Auftritte im Kreistag und die hartnäckige Suche nach Ansprechpartnern in überregionalen Institutionen des Landes Brandenburg brachten Anfang 2006 gleich zwei große Erfolge. Das brandenburgische Umweltministerium wies den Landkreis Uckermark an, die Planungen an der K 7329, Teilabschnitt Densow-Annenwalde, auszusetzen. Der Kreis verzichtete daraufhin auf das Fällen der Bäume, bestand aber weiter auf seinem Recht, die Straße zu asphaltieren. Doch dann wurde das Landesdenkmalamt aktiv. Mit Datum vom 15. Februar ging die Allee als Technisches Denkmal in die Liste des Landes Brandenburg ein. Landrat Klemens Schmitz kündigte schon auf der Kreistagssitzung vom 8. Februar Widerspruch an. Die Bekenntnisse zum Asphalt wurden von vielen lautstark beklatscht, am lautesten vom Abgeordneten Wichmann von der CDU, bekannt aus Film und Fernsehen. Die Frage einer Bürgerin, ob es nicht möglich sei, den Erhalt der Allee als Maßnahme der Tourismusförderung, also letztlich der Wirtschaftsentwicklung, zu sehen, prallte an der uckermärkischen Dickschädeligkeit ab.

Auf einer Website des Brandenburgischen Ministeriums für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz ist die Straßenbaumbilanz der Jahre 1991 bis 2004 veröffentlicht. Seit 2001 hat sich die Zahl gefällter Alleebäume mehr als verdoppelt, bei nur halb so vielen Neupflanzungen. Der Grund für die erschreckende Bilanz: Seit 15 Jahren werden überall in Brandenburg alte Pflasterstraßen geteert. Durch die Versiegelung der Flächen vertrocknen die Wurzeln der Bäume. Von Wind und Sturm geschwächt, bilden sie ein Risiko für den Verkehr und müssen gefällt werden. Die Linden zwischen Densow und Annenwalde sind kerngesund. Sie haben 100 Jahre gebraucht, um ihre imposante Größe zu erreichen. Obwohl es manchmal eng wird, sind bislang alle Fahrzeuge aneinander vorbeigekommen. Es musste auch nie ein Kreuz errichtet werden, das an den Tod eines Unfallopfers mahnt. Die schmale Straße könnte so repariert werden, dass sie den heute üblichen Belastungen standhält. Für den Erhalt alter Pflasterstraßen gibt es verschiedene Fördermittel, um die sich der Landkreis bemühen könnte, wenn er denn wollte. Die Allee würde sogar unrepariert noch etliche Jahre ihren Dienst tun, wenn man sich zu einer Tempo-30-Regelung auf den 700 Metern durchringen würde.

Vorläufig ist die Allee in Sicherheit. Das musste auch Bürgermeisterin Karin Hockauf mit unüberhörbarer Bitterkeit feststellen. Aber sie gibt nicht auf. In einer Dringlichkeitssitzung des Ortsbeirats vom 14. März verabschiedete sie mit Oli Sajons einen Eilantrag, der den Kreis auffordert, an seiner bisherigen Planung festzuhalten. Ausgang offen.

JOSEFA WITTENBORG, 49, lebt als freie Autorin in Annenwalde und Berlin