Mein Herz ist eine Made, die sich über die Leichen der Freunde hermacht

Aus dem Tagebuch eines Syrers in Europa

VON AMER MATAR (SYRIEN)

Das Gefühl, nichts ausrichten zu können, packt mich beim Ohr. Mir schmerzt der Kopf. Ich frage mich, was ich hier tue. Soll ich von den Toten oder von den Lebenden in meinem Land berichten? Ich weiß es nicht.

Vorne spricht Ban Ki Moon über das Sterben in Syrien. Und ich spreche in Kürze nebenan in einem anderen Saal des Genfer Menschenrechtsrates. Dabei weiß ich, dass alles, was hier bisher gesagt wurde und was ich sagen werde, nichts bewirkt.

In wenigen Stunden wird die Zahl der Menschen, die allein am heutigen Tage dem anhaltenden Schlachten mit Messern und Bomben zum Opfer fallen, auf 200 gestiegen sein.

Nach dem sinnlosen Auftritt kehre ich ins Hotel zurück. Ich schreibe einen Nachruf auf einen Freund, der von einer Bombe bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, und lege das Manuskript in den Nachrufordner. Selbstekel befällt mich. Ich komme mir vor wie eine Made, die sich über die Toten hermacht. Ich bin erschöpft, mag nicht mehr über meine getöteten Freunde schreiben.

Ich denke über meine Rolle seit Beginn der Revolution nach, frage mich nach dem Sinn meiner Arbeit. Haben die Medien auch nur ein einziges syrisches Kind vor dem Gemetzel gerettet? Steht uns die Völkergemeinschaft zur Seite, nachdem wir angefangen haben, die Vernichtung unserer Städte und Körper für die Allgemeinheit in Bildern festzuhalten?

In der Hoffnung, die Weltöffentlichkeit zu bewegen, um den eigenen Untergang abzuwenden, sind Syrer massenhaft zu Fotografen und Journalisten geworden. Tausende junger Menschen griffen zur Kamera und dokumentierten ihre Revolution. Einige ließen dabei ihr Leben.

Das maßlose Leid hat das Gedächtnis jedes Syrers in ein Massengrab verwandelt. Die Opfer sind Mensch und Ort. Ich entdecke, wie naiv wir sind. Entdecke, dass die Menschlichkeit der anderen eine Lüge ist, auf die wir hereinfallen.

Im U-Bahn-Tunnel große Leinwände. Werbung und Nachrichten in deutscher Sprache werden eingeblendet. Menschen in Eile, fahrende Züge. An jeder Station ist eine syrische Horrorszene zu sehen.

Die Aufständischen in meinem Land haben es geschafft, Bilder ihres tagtäglichen Leids in die ganze Welt hinauszutragen. Aber was nutzt das angesichts dessen, dass das Grauen immer größere Ausmaße annimmt?

Wieder zu Hause, befällt mich das Gefühl, gespalten zu sein. Das Gefühl, ein unwirklicher Mensch zu sein, der in dem syrischen Horrorfilm verharren will, während alle anderen in den U-Bahn-Stationen daran vorbeihasten und wegsehen wie bei unliebsamer Werbung.

Ich lebe im Gespaltensein. Habe das Gefühl, nach totem Fisch zu stinken. Komme mir vor wie einer jener Fische, die, ihrem Umfeld entrissen, in Youssef Abdalkis Bildern herumliegen.

Ein paar Tage später fahre ich nach Brüssel. Die Stadt begeht ihren jährlichen autofreien Tag. Überall tanzende Menschen. Haben die etwa das hiesige Regime gestürzt? Sofort holt mich der Fischgestank wieder ein.

Immergleiche Phrasen

Mittags findet im Rahmen einer syrischen Kunstausstellung in einem kleinen Saal in der Innenstadt eine Veranstaltung zur Situation in Syrien statt. Der Saal ist halb voll. Knapp fünfzig ältere Leute und ein Freund sitzen da. Wieder die gleiche Platte. Das Massensterben in meinem Land. Die Zahl der Toten. Die Bekräftigung, dass die Revolution nicht religiös motiviert ist.

Während die immergleichen Phrasen wiedergekäut werden, verliert Fatima, ein kleines Mädchen, ihren Kopf. Er wird ihr vom Körper abgetrennt. Ich bin dort. Spreche über die Begegnung syrischer Körper mit Messern und Bomben, darüber, wie verkohlte Leichen eine Verbindung mit der Luft eingehen. „Kann ich nach Beirut fahren, um die Hochzeit meiner Freunde mitzufeiern?“, fragt eine alte Dame. Die nächste Leiche kündigt sich an. „Liebe Frau“, sage ich, „bei dem Leichengestank, der vom Wind aus den benachbarten Städten herangeweht wird, ist nicht gut feiern.“

„Wir machen uns Sorgen um euch wegen der Islamisierung“, wird in der kommenden Veranstaltung der nächste europäische Greis bemerken. Wieder werden Kehlen durchtrennt.

Die Beiträge vertiefen mein Gespaltensein. Der Gestank von Abdalkis Fischen haftet mir an. Ich hasse meine Stimme, hasse meine Antworten. Es ist, als würden aus meiner Kehle Maden quellen, die sich über die Leichen meiner Freunde hermachen.

Wieder packt mich das Gefühl, nichts ausrichten zu können, beim Ohr. Es schleudert mich in meine Wohnung, stößt mich in die Gewissheit, dass Medien nichts bewirken, wenn ein Syrer sich heute an seine Mitmenschen wendet. – Auf Facebook stellt einer meiner Freunde eine Rätselfrage über die syrische Realität: „Rate mal, wer ums Leben gekommen ist.“ Die Bilder all meiner Freunde brechen über mich herein. Er zögert die Antwort hinaus. Mein Herz überspringt die Bilder, das Gesicht meiner Mutter und meines Vaters erscheinen.

„Abdu al-Masri“, löst der Freund auf Facebook das Rätsel auf. Abdu al-Masris Haus im Damaszener Viertel Basateen Mezzeh wurde von einer Bombe getroffen. Abdu überlebte die Explosion. Man brachte ihn ins benachbarte El-Razi-Krankenhaus. Das Krankenhaus weigerte sich, meinen Terroristenfreund aufzunehmen. Da nahm ihn der Himmel auf. – Ich werde aufhören zu schreiben. Aufhören, die Lüge von der Macht der Medien zu glauben. Aufhören zu glauben, dass Medien das syrische Volk vor Misshandlung und Tod retten können.

■  Amer Matar, 1987 in Damaskus geboren, ist ein syrischer Journalist und Menschenrechtsaktivist. Er war Mitbegründer von The Street, einer Organisation, die sich für freiheitliche Medien einsetzt und den syrischen Aufstand filmisch begleitete. Für seinen Film „Azadi“ über den Aufstand in den kurdischen Gebieten erhielt er eine Auszeichnung des Rotterdamer Filmfestivals. 2011 wurde Matar zweimal vom syrischen Geheimdienst festgenommen, verhört und gefoltert. 2012 konnte er mithilfe der Heinrich-Böll-Stiftung fliehen, seitdem ist er Stipendiat des Writers-in-Exile-Programm des PEN. Sein Beitrag erschien zuerst in der PEN-Anthologie „Fremde Heimat. Texte aus dem Exil“ (Matthes & Seitz 2013)