Gut geweiht ist halb erwachsen

RITUAL In Ostdeutschland ist die Jugendweihe nach wie vor sehr beliebt. Beobachtungen bei einer Zeremonie von heute und Erinnerungen an den Initiationsritus vor der Wende

Die Kandidaten wirkten schon damals so unbeholfen halberwachsen wie heute

AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH

Unsicher knickeln die jungen Damen auf ihren ungewohnten Stelzenfüßen die Stufen zur Bühne empor. Jede eine kleine Prinzessin in Opernballgarderobe, verlegen das nicht minder ungewohnte Dekolleté zurechtrückend. Die gleichaltrigen jungen Herren mit sichtlichem Entwicklungsrückstand. Manche hängen wie eingesackt in ihren Generaldirektorenanzügen herum und versuchen, möglichst routiniert den Jackettknopf zu schließen. Andere in Jeans mit übergeworfenem Hemd, höchstens einen schwarzen Schlips oder eine trendige Weste dazu. „Jugendweihe – Dein Tag“ prangt es über der Bühne.

Dort oben gibt’s die „Weihe“ in Gestalt des Namensaufrufs, einer Urkunde, einer Blume und des Buchs „WELTanschauung – Jugend verändert die Welt“. Das entspricht ungefähr dem Ablauf der Feier: geballte humanistische Lebensweisheit plus Grundkurs in Gemeinschaftskunde, Philosophie, Religion, Eine-Welt-Denken. Selbstredend auf der Basis eines wissenschaftlichen Weltbildes. Nicht alle wissen, warum sie eigentlich hier sind. „Ich mach mir keinen Kopp, ich gehe einfach hin“, meint ein Jüngling. „Und nachmittags gibt’s Geschenke!“ Von Initiationsriten in allen Weltkulturen haben die meisten noch nie gehört. Auch nicht von den Ursprüngen der Jugendweihe in freidenkerischen Kreisen.

Der Frühling ist auch die hohe Zeit des offiziellen Eintritts in den Frühling des Lebens. An jedem Wochenende gibt es wie hier in der Dresdner Komödie nun Jugendweihefeiern, insgesamt an 95 Orten Sachsens. 10.000 Bewerber wollen allein im Freistaat „geweiht“ werden, im ostdeutschen Schnitt rund 60 Prozent eines Jahrgangs. Zum Vergleich: In Hamburg mit einem regen Jugendweiheverein kommen pro Jahr kaum 500 Teilnehmer zusammen. Die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführte Jugendweihe ist kein DDR-Relikt, andererseits aber doch eine Ost-Tradition, denn 1985 nahmen 97,4 Prozent der 14-Jährigen an der Jugendweihe teil.

Vor dem Verbot durch die Nazis und der erfolgreichen Einführung eines atheistischen Volksbrauches in der DDR wählte rund ein Drittel der Jugendlichen aus Kreisen der Freidenker, der Sozialisten und Kommunisten diese Form des Erwachsenen-Handschlags. Die Formen haben sich inzwischen deutlich gewandelt. Werner Hütter, ehemaliger Präsident des sächsischen Jugendweiheverbandes, erinnert sich noch an das zaghafte Wiederaufleben nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwei von 25 Klassenkameraden hätten 1947 an einer SPD-Veranstaltung teilgenommen. „Mein Anzug bestand aus einer umgeschneiderten Uniform, es gab Ersatzkaffee, und die Festansprache in einem alten Kino hielt ein ehemaliger KZ-Häftling.“

In der DDR wurde die Jugendweihe bewusst als Gegenveranstaltung zur Konfirmation aufgebaut. Der Handschlag am großen Tag kam von einem führenden SED-Genossen, und das atheistische Weltanschauungsbuch hieß „Weltall, Erde, Mensch“. Die Kandidaten aber wirkten schon damals so unbeholfen halberwachsen wie heute. Manchmal spielte sogar ein richtiges Jugendorchester oder ein Streichquartett „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“.

Kann man heute für 95, ermäßigt 75 Euro Teilnehmerbeitrag nicht erwarten. Dafür aber kommen eine beachtliche Breakdance-Gruppe und eine Sängerin, die richtig singen kann, und ein Moderator mit richtigem Charme. Jede Menge Zitate der Weltliteratur, unverzichtbar Hermann Hesses „Stufen“ mit dem Anfangszauber. Kein penetranter Atheismus. Die Festansprache plaudert der Hamburger Gast Konny G. Neumann locker von der Rampe. Noch lockerer bedanken sich die Jugendlichen, von denen sich einige beim Pfingstcamp in Oschatz oder bei der Paris-Fahrt wiedersehen werden. „Ich bin, was ich bin“, schmettert die Sängerin. Bis es so weit ist, gilt für die Frischgeweihten eher doch das Orakel von Delphi: Erkenne dich selbst!