Das Spielzeug bleibt zuhause

EXPERIMENT Die Kinderstube Altona im Hamburger Schanzenviertel setzt auf die Kreativität der Kinder

„Die Eltern fragen, ob den Kindern ohne Spielzeug nicht langweilig wird“

Thorsten, Erzieher

VON FRIEDERIKE FALKENBERG

Auf den ersten Blick sieht die Kinderstube Altona im Schanzenviertel nicht viel anders aus als jeder gewöhnliche Kindergarten: Im Flur hängen Kinderjacken in allen Farben, über jedem Haken ist ein Bild: Pippi Langstrumpf, eine Möwe, ein Seegelboot. Aber wenn man durch die großen farbenfrohen Räume geht, fehlt etwas, dass sonst zu jedem Kindergarten gehört: Spielzeug.

Stattdessen sind die Regale voll mit Papier, Perlen, Knöpfen, Holzstücken, Muscheln und anderen Bastelmaterialien. Im Toberaum gibt es große Matratzen, Kissen, Decken und eine Kletterwand. Aber keine einzige Puppe, keine Bauklötze. Die Kinderstube ist der einzige komplett spielzeugfreie Kindergarten in Hamburg.

Erzieherin Martina hat den Wechsel von „mit“ zu „ohne Spielzeug“ als einzige aus dem aktuellen Erzieher-Team miterlebt und erzählt, wie ein Kollege damals die Idee hatte: „Er hat ein Buch über die neue pädagogische Idee gelesen und war gespannt, wie so ein Kindergarten ohne Spielzeug funktionieren würde“, sagt sie. „Ich war zunächst sehr skeptisch, aber bereit, es zu probieren.“

Also plante das Team ein Projekt: „Wir schicken das Spielzeug in den Urlaub“, hieß es den Kindern und Eltern gegenüber. Das Projekt war für drei Monate geplant, aber Martina versprach sich selbst und den Eltern: „Sollten die Kinder lethargisch in der Ecke sitzen, brechen wir das Experiment ab.“ Am meisten Sorgen machten sich die Eltern. „Die fragen auch heute noch oft, ob den Kindern nicht langweilig werde“, sagt Martinas Kollege Thorsten.

Doch die Kinder saßen nicht in der Ecke. Sie hatten viele Ideen, spielten in Gruppen zusammen, schlossen Freundschaften mit Kindern, mit denen sie vorher wenig gespielt haben. „Manche Kinder haben das Spielzeug gehortet und hatten dadurch viel Aufmerksamkeit von den anderen Kindern“, sagt Martina. Andere, sonst eher schüchterne Kinder oder solche, die beim Spielzeug häufig zu kurz kamen, blühten auf, wurden kreativ und „zogen bald eine ganze Kinderschar hinter sich her“.

Inzwischen spielen die Kinder im Toberaum der Kinderstube. Maja und Line haben sich einen Kasten geholt, in den sich Line hineinzwängt. „Ich bin ein Elefant“, sagt sie und kichert. „Jetzt sind wir beim Zirkus angekommen“, stellt Maja fest und reicht ihrer Spielkameradin die Hand, damit sie besser aussteigen kann.

Erzieher Thorsten steht an der Seite und lacht immer wieder leise, während er den Kindern zusieht. „Rollenspiele sind sehr beliebt bei unseren Kindern“, sagt er. Im Toberaum finde sich dazu alles, was sie brauchen. „Aus den Polstern wird schnell ein Auto, aus einer Matratze ein Haus, aber häufig brauchen die Kinder die Utensilien nicht mal.“

Eine weitere Alternative sei das fast tägliche Draußenspielen. „Auch draußen benutzen wir kein Spielzeug wie Schaufeln und dergleichen“, sagt Thorsten. Auf welchen Spielplatz sie gehen, dürfen die Kinder selbst entscheiden. Gibt es unterschiedliche Meinungen, wird demokratisch abgestimmt. „Wenn wirklich mal kaum jemand nach draußen möchte und die Kinder uns plausible Erklärungen liefern, bleiben wir auch drinnen“, sagt Thorsten.

Eine aufgeregte Stimme tönt aus dem Toberaum. Maja steht auf der Sprossenleiter ganz weit oben und ruft: „Ich kann eine Luftrolle!“ Lethargisch in der Ecke sitzen tut hier keiner.