Stadt der Gummistiefel

Sandsackburgen und Kanus in der Innenstadt: Die niedersächsische Kleinstadt Hitzacker versinkt wie schon im August 2002 erneut in den Fluten der Elbe

„Das ist doch unmöglich! Dass man in dieser Stadt keine Gummistiefel kaufen kann“

In der Bahn von Lüneburg nach Hitzacker sind zwei Jungs, um die 20 Jahre. Sie lästern über die Landschaft. „Alles Pampa, sieht ja aus wie in Polen hier.“ Beide haben Arbeitsschuhe an und große Rucksäcke dabei. Die Nacht haben sie in Lauenburg unter einer Brücke geschlafen. Da gab es noch nichts zu helfen. Das ist es nämlich, was die beiden wollen. „Ich war auch schon 2002 in Magdeburg dabei“, erzählt der eine stolz, „wenn man helfen kann“. Er kommt wie sein Kumpel aus Hamburg.

Es stellt sich schnell heraus, dass man mit Arbeitsschuhen nicht weit kommt – in Hitzacker braucht man Gummistiefel. Eine Mutter steht mit ihren beiden Kindern komplett in bunten Regenklamotten auf dem Bürgersteig. „Es ist schlimm, ganz schlimm“, sagt sie. Sie sind auf dem Weg zur Schwiegermutter, Sandsäcke schleppen helfen. Aber am meisten ärgern sie die Touristen, die familienweise mit Fotoapparaten durch die Stadt laufen. In ihrem Garten paddeln Enten zwischen der halb versunkenen Schaukel und den Obstbäumen.

Ganz Hitzacker ist auf den Beinen, obwohl es erst halb neun Uhr morgens ist. Ständiges Hintergrundgeräusch ist das Brummen der Pumpen, die Wasser aus Kellern und Wohnzimmern holen. Auf einer Brücke, umgeben von Wasser, steht Martin und unterhält sich mit den Nachbarn auf dem Balkon. „Bei uns fehlen noch 20 Zentimeter zur Decke, wir sind alle fix und fertig“, ruft der Elfjährige zu ihnen hoch.

Er findet das Hochwasser höchstens zu „einem Prozent spannend“, zum größten Teil sei es „nervig“. Martin zeigt auf den Weinberg: „Unsere Nachbarn sind jetzt da oben.“ Evakuiert. Auch alle Autos wurden dorthin gerettet. „Meine Oma hat heute einen Arzttermin“, sagt Martin noch, bevor er sich von zwei alten Männern im Boot einsammeln lässt, „den kann sie wohl vergessen.“

An der Brücke zur Altstadt-Insel hängen Blumenkästen mit Stiefmütterchen direkt über dem Wasser. Wer keine Gummistiefel hat, muss barfuß weitergehen. Die Alten sehen das gelassen. Ja, Füße waschen ist heute billig. Ja, klar ist es kalt. Ja, ich find’s auch elegant. Alles Normale wirkt grotesk, wie die Verkehrsinseln, die auf einmal wirklich Inseln sind. Das „Hotel Restaurant Waldflieder“ sollte man vielleicht in „Seetang“ umbenennen. Der Konditor steht bis zum Bauch hinter Sandsäcken und fragt gut gelaunt die Arbeiter, ob sie noch Kuchen wollen. Sie wollen lieber Bratwurst.

Auf dem noch trockenen Fußweg nahe der Touristeninformation stehen drei Computer und Monitore, die Mitarbeiter bauen Dämme. Die Bücher des Museums wurden schon in den ersten Stock geräumt. Die Frau aus dem Zeitungsladen regt sich über die „Wasserstadt Hitzacker“ auf. „Das ist doch ganz unmöglich! Dass man in dieser Stadt keine Gummistiefel kaufen kann! Da muss man erst bis nach Dannenberg fahren.“ Ihren Kiosk will sie so lang wie möglich offen lassen. Sie hat vorgesorgt: mit Notstromaggregaten und Kerzen.

Der Schlecker-Markt gegenüber hat schon zu. Davor paddeln zwei Jungs in einem blauen Kanu. Anna-Christina Nieweler