„Ich wollte meinen Vater kennen lernen“

Stefan Roloffs Vater war Mitglied der Widerstandsgruppe Rote Kapelle. Über deren Geschichte machte zunächst einen sehenswerten Dokumentarfilm. Nun hat er das Thema mit einer Fotoinstallation in Potsdam erneut bearbeitet

taz: Herr Roloff, Ihr Vater war Mitglied der Roten Kapelle, die sich den Nazis widersetzte. Sie haben sich erst sehr spät damit beschäftigt. Warum fiel Ihnen der Zugang so schwer?

Stefan Roloff: Lange Zeit bin ich der Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit ausgewichen, er war für mich nur negativ besetzt. Vater hat uns keine Diskussionen aufgedrängt. 1992 begriff ich, dass seine Zeit begrenzt ist. Ich wollte meinen Vater kennen lernen.

Hat die Nazi-Zeit Ihre Kindheit beeinflusst?

Mit etwa zwölf Jahren nahm mich mein Vater mit in die Hinrichtungsstelle Plötzensee. Ich sah die Fleischerhaken, an denen das Sterben qualvoll sein musste. Die Erwachsenen legten Kränze nieder. Eine merkwürdige traurige Neugier beherrschte mich, es gab da etwas, das ich nicht verstand. Und vor dem ich Angst hatte. Mit meiner Installation wollte ich vielleicht auch an diese Situation, an den Hinrichtungsraum, erinnern.

Wie wurde das Thema in Ihrer Familie behandelt?

Es galt im Westen eher als eine Schande, zu dieser Widerstandsbewegung gehört zu haben. Hier stand immer noch der Eindruck der Vaterlandsverräter, eine Übernahme aus den Akten der Gestapo, an erster Stelle. Im Osten wurden die wenigen Überlebenden als von sowjetischen Kommunisten instruierte Helden verehrt. Erst in den 1990er-Jahren fand die Rote Kapelle Einzug in die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Auf den Satz „Sie müssen doch stolz auf Ihre Vergangenheit sein“ antwortete mein Vater sehr entschieden, stolz, das sei das falsche Wort. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass wir Freiheit und Individualität schätzen lernen.

Wie gelangte Ihr Vater in den Kreis der Roten Kapelle?

Mein Großvater war Historiker an der Universität in Gießen, er verlor unter dem Einfluss der Nationalsozialisten seine Arbeit. Für meinen Vater war die Gruppierung eher ein Freundeskreis. Er vertrat die Haltung, es sei Pflicht zu helfen, gerade in solch einer Zeit wie der Nazizeit. Das konnte er nicht ignorieren.

Erkennen Sie eine Traumatisierung in Ihrer Familie?

Massenaufläufe und -veranstaltungen, selbst Rockkonzerte, waren meinem Vater ein Gräuel. Die Gefahr, dass alles umschwenken kann, war ihm bewusst. Die Erfahrungen aus der Nazizeit waren stets präsent.

Wie ging Ihr Vater mit seiner Trauer um?

Seine besten Freunde wurden hingerichtet. Er glaubte daran, die Haltung, für die sie alle sterben mussten, im Weiterleben vervollständigen zu können. Bis zum Ende seines Lebens, jeden Tag: Mein Vater war ein unverbesserlicher Individualist. Nie hätte er sich Gruppenbewegungen angeschlossen oder wäre im Gleichschritt marschiert.

Wie wichtig ist, seit Mitte der 1990er-Jahre, die revidierte Sicht auf die Rote Kapelle?

Der Prozess der Geschichtsschreibung wird immer ein heikles Thema bleiben, das zeigt die Rezeption der Roten Kapelle auf. Nun ist alles erforscht, jetzt kann man anfangen zu lernen: dass es eine unabhängige Widerstandsgruppe war, die nicht ideologisch geleitet wurde, in der alle willkommen waren. Hitler konnte nicht begreifen, warum sich derart unterschiedliche Leute zusammenschlossen. Vielleicht hat er sie deshalb sehr hart bestraft und Todesurteile selbst bestätigt.

War die Rote Kapelle als Widerstandsgruppe überhaupt effektiv?

Die Flugblätter wurden schnell an die Gestapo weitergeleitet, die Klebezettel politisierten niemanden. Die Phase der Roten Kapelle von 1938 bis 1942 war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit in der ganzen Welt. Dennoch zeigt ihre Geschichte, dass Zivilcourage machbar ist. Auch in einem Regime.

INTERVIEW: SILKE KETTELHAKE