hamburger szene
: Rückwärts fahren

Ich sitze im Bus, die Plätze neben mir und gegenüber sind frei, bis Vanessa und ihre Mutter einsteigen. „Vanessa, komm hierüber!“ Die Mutter setzt sich auf die andere Seite. Vanessa setzt sich demonstrativ mir gegenüber, mit dem Rücken in Fahrtrichtung, und will partout nicht bei ihrer Mutter sitzen, weil ihr schlecht wird vom Rückwärtsfahren. Wahrscheinlich weiß sie selbst, dass sie rückwärts fährt, so wie sie jetzt sitzt, aber ihre Mutter gehört zu den Menschen, die man wunderbar foppen kann. Vanessa sagt aus Reflex: „Ich fahre vorwärts!“ und ihre Mutter antwortet wie automatisch: „Rede nicht gegenan!“ Sie soll sich zu ihr setzen. Außerdem soll Vanessa nicht die Leute „zutexten“. Dass ich schicke Haare habe, wie mein Mann heißt, ihr Vater heißt Helmut - „VANESSA …!“– „Ich bin schon still“, sagt Vanessa, grinst mir verschwörerisch zu und hält die Klappe. Glotzt dafür, ganz unverwandt, durch ihre dicke Kinderbrille. Eine ältere Dame setzt sich neben mich, sie findet das Kind ganz offenbar entzückend. Dass sie schon fünf ist, schon ihren Namen schreiben kann, zwei neue Zähne hat und einer davon schief wächst. Ob sie in den Kindergarten geht. „Nein“, sagt sie und lacht in Mamas Richtung, „da hat Mama mich rausgenommen, der war ihr zu teuer.“ Mamas Lippen zucken. „Mama muss sowieso immer alles bezahlen: Miete, Wasser, Strom ...“ Sie zählt das an den Fingern ab und singt immer weiter „Miete, Wasser, Strom ...“ Ohne Kindergarten hat die Mutter Vanessa jetzt die ganze Zeit an der Backe. Ich habe meine Haltestelle verpasst.

Anna-Christina Nieweler