Eine Katastrophe ohne Autor

GESCHICHTE Christopher Clarks fulminante Studie über die Entstehung des Ersten Weltkriegs hinterfragt die Rolle des Deutschen Kaiserreichs

„Viele vertrauten dem Frieden. Auch deshalb gab es Krieg“

VON STEFAN REINECKE

Vielleicht begann der Erste Weltkrieg 1911 in Libyen, als italienische Truppen ohne Grund und Recht diesen Teil des Osmanischen Reiches besetzten. Es war ein böser, blutiger, typischer Krieg. Die Europäer fühlten sich als Herren der Welt, die überall Beute machen durften. Und typisch war es, noch den dreckigsten Raubzug mit historischer Bedeutung aufzupumpen. So veredelten die Italiener ihr Gemetzel zur Rückkehr nach Karthago und römischer Glorie.

Es ist Spekulation – aber ohne den Überfall auf Libyen hätte es den Ersten Weltkrieg vielleicht so nicht gegeben. Denn der rasche Sieg der Italiener zeigte, wie morsch das Osmanische Reich war, und ermunterte Bulgarien, Montenegro, Serbien und Griechenland in Südosteuropa, gegen die Osmanen (und danach gegeneinander) in den Krieg zu ziehen. 1912 und 1913 kam es zu den zwei Balkankriegen, und schon 1913 wäre es fast zur militärischen Konfrontation zwischen Serbien und Österreich-Ungarn gekommen. Das Osmanische Reich implodierte, in den neuen Staaten regierte bösartiger Nationalismus, die Großmächte schauten nervös zu. „Der Erste Weltkrieg“, schreibt Christopher Clark, „war genau genommen der dritte Balkankrieg.“

Vorgeschichte der Urkatastrophe

Für Clark ist die Genese des Ersten Weltkriegs nichts weniger als „das komplexeste Ereignis der Weltgeschichte“, mit mannigfachen Akteuren, Schauplätzen, voll von doppelten Botschaften und schwankenden Interessenlagen. Wir kennen die klassischen Erklärungsmuster – etwa dass das wirtschaftlich aufstrebende Kaiserreich, das einen Platz an der Sonne erobern wollte, den Krieg schuldhaft inszenierte oder dass der Krieg ein unvermeidliches Ergebnis der Rivalität der imperialen Mächte war.

In „Die Schlafwandler“ werden diese Thesen klein-, die Nebenschauplätze, die diplomatischen Winkelzüge, vor allem die serbische Innenpolitik hingegen großgeschrieben. Clark, ein exzellenter Kenner preußischer Geschichte, entwirft ein Panoramabild des Geschehens, der Intrigen und Machtkämpfe in Sankt Petersburg und Wien, Berlin und Belgrad, mit verzweifelten oder auftrumpfenden Diplomaten, nach vorne drängenden Militärs, zögernden Ministern, dem überforderten Kaiser und Zaren. Kriegstreiber, die endlich losfeuern wollten, gab es auf allen Seiten. In Serbien und Russland aber, Clark zufolge, etwas mehr als anderswo.

Die Vorgeschichte der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ist in unzähligen Büchern und Quelleneditionen dargelegt, ausgeleuchtet, und gedeutet worden. Clark gelingt eine eigene Perspektive, was allen Respekt verdient: Er zeichnet akribisch nach, wie es denn eigentlich gewesen ist. In diesem facettenreichen Bild existiert kein Automatismus, der geradewegs ins Unglück führte.

Die Bündnisse zwischen den Großmächten waren zwar nicht mehr so raffiniert verwoben und ausbalanciert wie noch um 1890, doch sie schufen und garantierten ein wenn auch prekäres Machtgleichgewicht in Europa. Bis 1914 erwiesen sich die Bündnisse als durchaus robuste Navigationssysteme, um ernste Bedrohungen wie die Marokkokrise 1911 zwischen Berlin und Paris oder die Albanienkrise 1913 zwischen Wien und Belgrad zu entschärfen. Der erfahrene britische Diplomat Arthur Nicholson schrieb drei Monate vor Kriegsausbruch, dass er im britischen Außenministerium „ nie so ruhige Gewässer erlebt“ habe. Den großen Krieg hatten zwar alle im Kalkül, in den Schubladen lagen Aufmarschpläne. Doch dass man sie brauchen würde, glaubten nur wenige. Viele vertrauten dem Frieden. Auch deshalb gab es Krieg. Der Erste Weltkrieg war, so Clarks Lesart, nicht zufällig, aber auch nicht zwingend. So gibt es auch keinen Schuldigen. „In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis. Oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes Akteurs.“ Alle sahen sich irgendwann als angegriffenes Opfer – und waren umso finsterer zum Krieg entschlossen. Die eindringlichsten Passagen zeigen, dass der große Krieg auch eine Art Kommunikationspanne war.

Weder in Berlin noch in Sankt Petersburg und Paris wusste man, wie weit die andere Seite gehen würde. Der Krieg kam auch, weil man sich Illusionen machte: dass Serbien doch die Direktiven aus Wien akzeptieren würde oder dass Berlin Wien doch im letzten Moment zurückpfeift. Die halbdemokratischen, halbmonarchischen Regime strebten nach Weltherrschaft, waren aber unfähig, klare Botschaften zu senden oder gar unklare zu entziffern.

Akteure statt Strukturen

„Die Schlafwandler“ ist ein irritierendes Werk: beeindruckend recherchiert und mitunter kurzschlüssig, scharfsinnig und mitunter halbblind. Das mag auch dem Genre geschuldet sein. Clark erzählt die Geschichte als Kette von Ereignissen: von Depeschen, Reisen, Ministerrunden, Intrigen, Krisensitzungen. Das hat einen Vorteil. Es öffnet unseren von den Folgen, von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg verstellten Blick. Wir sehen die Akteure in ihrem Horizont, auch in der Illusion gefangen, dass es ein kurzer Krieg werden würde.

Allerdings erkennt man vor lauter Akteuren mitunter keine Strukturen und Interessen mehr: viel Bühne, wenig Hintergrund. So kommen das Wettrüsten als Treibsatz der Eskalation und auch die aggressive Rolle der Deutschen dabei erstaunlich kurz. Dass Deutschland im August 1914 als erstes das neutrale Belgien militärisch überrollte, erscheint bei Clark verblüffenderweise eher als Ungeschicklichkeit denn als Verbrechen.

Frappierend ist das Bild Serbiens. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo im Juni 1914, das die Mechanik der Kriegsvorbereitungen in Gang setzte, ging auf das Konto einer serbischen Undercover-Terrororganisation, die mit dem serbischen Regierungsapparat verknüpft war. Etwa so wie al-Qaida in Pakistan. Serbien erscheint als Hort irrationaler, blutrünstiger Nationalisten, die den Weltkrieg vom Zaun brechen, um am Ende Großserbien zu schaffen. Daran mag einiges stimmen. Aber der Kontext fehlt. Vom ethnisch gesäuberten Großreich träumte man damals nicht nur in Serbien, sondern in allen postosmanischen Gesellschaften: in Bulgarien, Griechenland, Albanien, später der Türkei. Bei Clark erscheint der gewalttätige Chauvinismus hingegen als serbischer Nationaldefekt: Vom Attentat in Sarajevo 1914 bis zur Belagerung Sarajevos 1994 scheint eine Linie zu führen.

Umgekehrt fällt das Bild der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn recht freundlich aus. Hier fanatische Selbstmordattentäter, dort eine Art überforderte Mini-EU mit Kaiser. Das passt zum heutigen Zeitgeist. Der blutige Nationalismus der postjugoslawischen Kriege der 90er Jahre hat auch den Blick auf das Habsburger Regime verändert. Es erscheint in mildes Licht getaucht, nicht als imperiale Macht im Zerfallsstadium, eher als etwas verschlafene Vielvölkergemeinschaft. Und als Heimstatt jener multiethnischen Toleranz, die im 20. Jahrhundert so häufig ruiniert wurde.

So kann man es sehen. Das entspricht unserem aufgeklärten, postnationalen Bewusstsein. Bei Clark wird dieser Blick allerdings zum Passepartout für den Juli 1914. Diese Rückprojektion ist für Historiker mehr als kühn.

Christopher Clark: „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. DVA, München 2013, 896 S., 39,99 Euro