Frankreich reißt 1.500 Häuser in Überflutungsgebiet ab

KLIMAWANDEL Die Pariser Zentralregierung greift an der Atlantikküste durch. Die Anwohner protestieren

Der Vorwurf an die Gemeinden: Wirtschaftliche Interessen gingen vor Gefahrenabwehr

PARIS taz | Auf die Verwüstungen durch das Sturmtief „Xynthia“ und die Trauer über die 53 Todesopfer folgt die Wut der Geschädigten. Sechs Wochen nach der Sturmkatastrophe von Ende Februar hat die Pariser Zentralregierung beschlossen, aus Sicherheitsgründen mehr als 1.500 Bauten an der mittleren französischen Atlantikküste abreißen zu lassen. Diese befinden sich in der „schwarzen Zone“, in der sich nach Ansicht der Experten erneut verheerende Hochwasserkatastrophen ereignen könnten. Die von dieser Anordnung betroffenen 915 Häuser in der Vendée und 595 im benachbarten Departement Charente-Maritime liegen zumeist unter dem Meeresspiegel. Im Prinzip waren sie durch Dämme vor den Fluten geschützt. Doch dem Sturm „Xynthia“ waren diese Schutzwälle an mehreren Orten nicht gewachsen. Ganze Quartiere wurden in kürzester Zeit überflutet. In zahlreichen Häusern gab es für die Bewohner kein Entkommen.

Die Behörden wollen nun sehr rasch und entschlossen vorgehen. Die für unbewohnbar erklärten Zonen sollen innert zwei Monaten geräumt und die evakuierten Häuser dem Erdboden gleichgemacht werden. Wer nicht freiwillig abzieht, wird enteignet. Den Besitzern verspricht der Staat finanzielle Entschädigungen. Diese würden aufgrund des Werts ihrer Immobilien vor der Katastrophe berechnet, versicherte Benoist Apparu, Staatssekretär für Wohnungsbau und Stadtplanung. Er rechnet mit Kosten von 300 bis 400 Millionen Euro für diese Kompensationen, die etwa zur Hälfte aus einem Fonds für Katastrophenschäden finanziert werden.

Während ein Teil der betroffenen Bevölkerung möglichst rasch in sichere Wohngebiete ins Landesinnere ziehen will, hängen andere Einwohner trotz Angst und Schäden an ihrem Heim. Sie empfinden den Abbruchentscheid aus Paris als Willkür und Ungerechtigkeit. Als am Freitag in den beiden betroffenen Departements die Präfekten als Vertreter der Zentralregierung in öffentlichen Bürgerversammlungen die Details der Abbruchzonen bekannt machten, reagierten viele Familien ungehalten. Sie befürchten finanzielle Einbußen, stellen aber auch die Zerstörung ihrer Häuser zur Prävention in Frage. Die Karte der „schwarzen Zonen“ sei von Bürokraten ohne jede Rücksprache erstellt worden. Wesentlich billiger käme es ihrer Meinung nach, die Dämme zu konsolidieren, deren Unterhalt seit vielen Jahren vernachlässigt worden sei.

In mehreren Ortschaften haben die „Xynthia“-Opfer am Wochenende gegen die geplanten „Massendemolierungen“ demonstriert und Vereinigungen gegründet, um gemeinsam Verwaltungsbeschwerden gegen das Abbruchurteil und eventuell aber auch Strafklagen gegen die Bürgermeister einzureichen, die für die Baugenehmigungen der Vergangenheit verantwortlich zeichnen. Besonders der Bürgermeister von La Faute-sur-mer, wo 29 Menschen beim Hochwasser starben, wird heftig kritisiert. Der Vorwurf: Wirtschaftliche Interessen seien wichtiger gewesen als der Schutz der Bevölkerung vor bekannten Gefahren.

Betroffene klagen gegen Bürgermeister, die ihnen Baugenehmigungen erteilten

Auch der Präfekt der Vendée klagt an: „Seit neun Jahren hatte La Faute-sur-mer die Umsetzung des Plans zur Überschwemmungsprävention mit aufschiebenden Manövern hinausgezögert!“ RUDOLF BALMER