Geänderte Mehrheiten

Als „rote Riesenkrake“ hat man sie beschimpft und manche wurden niemals müde, „Schluss mit dem roten Spuk“ zu fordern. Heute gewinnt die Bremer Uni Exzellenzwettbewerbe. Ein Gespräch mit dem Leiter des Universitätsarchivs, Till Schelz-Brandenburg, über Reformen und Residuen an der einst strikt kritischer Wissenschaft verpflichteten Hochschule

von Christian Jakob

Die Geschichte, dass in Bremen einst eine Universität gegründet wurde, die ganz anders sein wollte als alle anderen, wurde sicher schon tausend Mal erzählt. Das ihr das heute eher peinlich ist, wahrscheinlich auch. Doch wie schnell können Interdisziplinarität, Drittelparität und „interessengeleitete Wissenschaft im Dienste der Unterprivilegierten“, die einstigen Bremer Gründungsprinzipien, wirklich abgewickelt werden?

Till Schelz-Brandenburg beobachtet die Geschichte der Universität von Anfang an – und von Berufs wegen. Der Historiker leitet das „Zentrale Archiv“ der Universität Bremen. Als der Geschichtsstudent 1971 aus Berlin hierher kam, mangelte es neben vielen anderen Dingen auch an Professoren. Und so durfte der angehende Historiker gleichzeitig studieren und Lehrveranstaltungen anbieten. Letzteres bis heute. Nicht nur aus dem studentenbewegten Berlin, auch aus Frankfurt zog es viele linke Akademiker, darunter auch Schüler von Adorno, an die Weser – und sie blieben. Besetzten Lehrstühle. Für „kritische Wissenschaft“. Jetzt gehen alle in Pension. Ihre Lehrstühle werden abgeschafft, teils ganze Studiengänge abgewickelt. Und was kommt?

„Technokratisierung?“ Schelz-Brandenburg ist sich nicht wirklich sicher. „Natürlich wird hier sehr viel weggeschliffen. Doch das Verhältnis ist dialektisch. Manche der Grundbegriffe werden gerade wieder entdeckt, sind sehr modern.“ Das Interdisziplinarität auch in den Führungsetagen der Wirtschaft Anhänger hat, ist nichts neues. Aber sind Prämissen nicht völlig andere? Schelz-Brandenburg will das nicht gelten lassen. Schon damals sei die Bremer Fortschrittlichkeit von Forschung und Lehre durchaus vom Kapital goutiert worden. „1973 war der Vorstandsvorsitzende von Bayer hier“, erzählt er, „und war begeistert. Das hier keine Fachidioten gezüchtet wurden, hat sich bestens mit Verwertungsinteressen vertragen.“

Außerdem sei eben noch nicht alles weg, was der Universität einst den nunmehr arg strapazierten Ruf der „roten Kaderschmiede“ eingebracht hat. „Es ist klar: die Mehrheiten haben sich hier geändert. Aber es gibt durchaus gewisse Residuen in einigen Fachbereichen.“ Wo denn? Schelz-Brandenburg erzählt von Juristen und ihrer gewerkschaftsnahen Spezialisierung auf Arbeitsrecht. Die Liste ließe sich fortsetzen, findet er. Also nur ein biologischer Generationswechsel? So will er sich auch nicht verstanden wissen. „Was früher „Geschichte der Arbeiterbewegung“ hieß, heißt jetzt wieder „Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“.

Der Bremer Sieg im „Exzellenz-Wettbewerb“ hat für ihn einen bitteren Beigeschmack. „Für jeden Euro“, erklärt er „die die Uni aus diesen Bundesmitteln erhält, muss das Land 10 Cent oben drauf legen.“ Und kürzlich, berichtet er, habe ein SPD-Parteitag gefordert, diese Zulage solle der Bildungssenator im ohnehin unterfinanzierten Schulwesen abzweigen. Für die „Elite“. „So etwas schaffen heute Sozialdemokraten“.

Ironie des Schicksals: Schelz-Brandenburg profitiert selber vom kürzlichen Bremer Etappensieg beim Exzellenzwettbewerb – und das ausgerechnet mit dem Projekt einer neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe. Diese will er mit anderen Universitäten, zum Teil aus Japan, heraus bringen. Geleitet wird das Projekt von der Berliner Akademie der Wissenschaften. Und die, erzählt Schelz-Brandenburg, sei „hocherfreut“ über den Etappensieg der beteiligten Bremer gewesen. „Das hilft der Akademie nämlich bei ihrer eigenen Drittmittelwerbung ganz erheblich.“

„Drittmittel sind ja an sich nichts schlechtes“, findet er. „Das Problem fängt erst da an, wo man anfängt, auf Inhalte zu verzichten, um sich nicht der Drittmittelfähigkeit zu berauben.“ Das derlei inhaltliche Korruption unter Lehrenden immer mehr um sich greift, bemängeln Kritiker nicht erst seit gestern. Aber was ist mit den Studierenden? „Entpolitisiert“, findet er. Ganz Unrecht hat er da sicher nicht. Als einige StudentInnen im Sommer die Rüstungsschmiede „Rheinmetall Defence Electronics“ von der „Absolventen-Messe“ in der Glashalle vertrieben, mussten sie sich viele Vorwürfe anhören. Nicht vom Rektorat, sondern von den Kommilitonen. Die sahen allen Ernstes ihre Karrierechancen als Absolventen der „Randale-Uni“ gefährdet. Schelz-Brandenburg kennt die Geschichte. „Natürlich sind die Leute verunsichert. Zu meiner Zeit hat jeder, egal ob Ägyptologe oder was immer, einen Arbeitsplatz gekriegt. Garantiert. Da wurde natürlich alles ganz anders diskutiert.“