Neues aus der Dunkelkammer

DRAMATIK HEUTE Zum ersten Mal finden die Autorentheatertage in Berlin statt. Intendant Ulrich Khuon hat sie vom Thalia-Theater in Hamburg ans Deutsche Theater mitgebracht. Hier werden zeitgenössische Stücke vorgestellt

Die Autorentheatertage sind kollektive Arbeit, ein Ringen um den Sinn des Theaters

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Theatertreffen in Berlin, das seit Jahrzehnten im Mai zehn „bemerkenswerte“ Inszenierungen präsentiert, hat eine starke Konkurrenz bekommen: die Autorentheatertage Berlin, die der Intendant Ulrich Khuon vom Thalia-Theater in Hamburg ans Deutsche Theater in Berlin mitgebracht hat. Seit dem 8. und bis zum 17. April sind 16 Inszenierungen eingeladen, die alle von einer starken und eigenwilligen Autorenhandschrift geprägt sind. Stark ist die Konkurrenz schon deshalb, weil die Autorentheatertage anders als das Theatertreffen ein eindeutiges Kriterium auszeichnet: zeitgenössische, oft sogar neu geschriebene Stücke vorzustellen.

Dass dem in seinen Ritualen etwas erstarrten Theatertreffen mit den Autorentheatertagen eine Herausforderung auf Augenhöhe gegenübertritt, kann dem Theaterbetrieb in Berlin nur guttun. Denn den Gastspielen im Mai haftet stets auch etwas von einer Gala an, mit der das System Theater seine Erfolge feiert. Die Autorentheatertage dagegen, die die Literatur in den Mittelpunkt stellen, strahlen etwas von einer kollektiven Arbeit aus, einem Ringen um den Sinn und die Weiterentwicklung des Theaters.

Dass zwei Stücke bei beiden Festivals auftauchen, „Diebe“ von Dea Loher, eine Produktion des DT, und „Der Goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig, unterstreicht noch die Nähe beider Festivals, lässt aber auch gut die unterschiedlichen Intentionen erkennen. Neben den „Dieben“ hat das Deutsche Theater ein zweites Stück von Dea Loher, „Das letzte Feuer“ vom Thalia-Theater Hamburg, nicht nur zu den Autorentheatertagen eingeladen, sondern auch ins eigene Repertoire übernommen. Das Festival ist also auch eine Plattform für die Verlängerung der dramaturgischen Arbeit des Hauses, für die Stärkung der Zusammenarbeit mit Autoren, für die Sichtbarkeit ihrer Bedeutung. Es ist anders eingebunden in die tägliche Arbeit des Theaters und das kommt einer anderen Art von Neugierde zugute: Man behauptet nicht einfach, das Beste einer Saison zu zeigen, sondern das, wovon man am meisten lernen kann.

Boom der Festivals

Dass die Terminplanung für noch ein Festival in der Stadt nicht ganz einfach ist, zeigte gleich das Eröffnungswochenende. Drei bis vier andere Theaterfeste starteten nämlich zeitgleich: Die Neuköllner Oper lud zu „Open Op“ mit internationalem Musiktheater, im Ballhaus Naunynstraße begann „Diyalog“ mit Gastspielen aus Istanbul, die Volksbühne und Attac veranstalteten das Bankentribunal. Als wäre das alles noch nicht genug, fand auch noch die 2. Lange Nacht der Opern und Theater statt. Da kann man schon mal denken, jetzt ist aber gut.

Dabei war es eigenartig und erhellend, „Das letzte Feuer“ und „Diebe“ von Dea Loher, beide von Andreas Kriegenburg inszeniert, kurz hintereinander zu besuchen. Beide treibt auf der Bühne ein großes Räderwerk an, einmal um die vertikale, einmal um die horizontale Achse: große Mahlmaschinen, die den Richtungsentscheidungen der Menschen stets vorausgehen und deren Willen immer schon als nachgeordnet ausweisen. In ihren Geschichten voller Schmerz und Verzweiflung, im Verlorengehen der Figuren sind beide Stücke miteinander verwandt: Das eine hat, so schildert es die Autorin, das andere auf ihrem Schreibtisch verdrängt, es wollte zuerst geschrieben werden. Etwas von diesem Herauswollen, der Dringlichkeit, formuliert zu werden und in Sprache Gestalt anzunehmen, haftet Lohers Figuren auch gerade da noch an, wo sie hartnäckig an der Verwischung der eigenen Konturen, an der Auslöschung ihres Seins arbeiten.

In „Das letzte Feuer“ nutzt Andreas Kriegenburg die Drehbühne mit seltener Konsequenz. Unaufhörlich ziehen die abgenutzte Küche, das Bad, die engen Flure und die Zimmer, deren Tapeten sicher von der vorvorigen Generation stammen, an uns vorbei. Das Elternpaar, deren Kind umkam; die Großmutter, die in ihrer Demenz gerade nur jenen Enkel erinnert, der nicht mehr lebt; die Lehrerin, die ihre Brust durch eine Operation verlor; der zurückgekehrte Soldat; die Polizistin, die von der Jagd auf einen Attentäter träumt, bis sie sich selbst als Attentäterin sieht: Alle diese beschädigten Figuren ziehen in ihren Gesprächen unaufhörlich durch die Räume, reden im Gehen, kriechen bei einer Umdrehung ins Bett und sind bei der nächsten im Bad am Morgen beschäftigt. Selten wird das Vergehen der Zeit so plastisch, ein Strom der Tage, betäubend in der Wiederkehr des Immergleichen und dann zusehends von Löchern, Fehlstellen, dem Versagen des eben noch Funktionierenden gezeichnet.

Und gleichzeitig glaubt man, die Schuld, die Selbstbezichtigungen, den Schmerz der Figuren nicht mehr auszuhalten; aber je näher einem die Emotionen auf den Leib rücken, desto weniger scheint ein Anhalten der ganzen Maschinerie möglich. Dabei ist das Spiel der Schauspieler weder expressiv noch aufdringlich; sie übernehmen von ihren Figuren die Eigenschaften, sich eher ständig in sich zurückzuziehen, sich unauffällig zu machen, anderen nicht im Weg zu stehen. Es ist eine großartige Ensembleleistung, wie diese Bewegungen aufeinander zu und ineinanderlaufen und wieder auseinanderdriften.

Lautes Knarren

Das zweite Mahlwerk, das Kriegenburg für „Diebe“ hat bauen lassen, knarzt zwar wesentlich lauter, ist aber in seiner mechanischen und in seiner psychischen Dynamik weniger überzeugend. Für Dea Loher eher ungewöhnlich, entfalten einige Szenen einen gruseligen Witz. Da sitzt ein hochneurotisches Ehepaar in seinem Wohnzimmer mit Panoramafenster und entwickelt bei Anzeichen von Veränderung mörderische Triebe; da beschließt der erwachsene Sohn des Versicherungsagenten mit allem einfach aufzuhören; da lernt eine junge Frau für Stellen, die sie nie bekommen wird. Schließlich schauen wir in ein Polizeirevier, in das liebesverrückte Frauen die merkwürdigsten Geständnisse tragen.

Wie in einem Uhrwerk tauchen die Orte und Figuren immer wieder auf, teils stilisiert wie im Kasperletheater, wo mit jeder Wiederholung zugleich eine Steigerung ins Gemeine und Lustige erwartet wird. Die Lust, mit der sich Dea Loher in den Schmerz verbohrt, die Sorgfalt, die sie seiner Ausleuchtung zukommen lässt, wird so selbst wie eine seltsame Obsession betrachtet und ein Stück weit parodiert. Dieser Umsturz ins Slapstickhafte liegt den Schauspielern sehr; doch was fehlt, ist der starke Sog, der im „letzten Feuer“ das große Figurenpanorama zusammenhält.

Aus Dresden war ein Stück von Martin Heckmanns eingeladen, der dort am Staatsschauspiel als Hausautor engagiert ist. Er hat einen Text mit und für drei Schauspielerinnen geschrieben, die seit fast vierzig Jahren in Dresden Theater spielen. In seiner wunderbar durchscheinenden Sprache kann man fast jeden Satz wie von zwei Seiten anschauen und sowohl auf die Präsenz auf der Bühne als auch auf das Leben dahinter beziehen. Das laute Nachdenken des Theaters über sich selbst ist sonst vor allem eine Sache von René Pollesch. Bei Heckmanns zieht eine ganz andere Tonart ein, sicher auch, weil es diesen Schauspielerinnen eben auch um das Sichtbarmachen eines Resonanzraums geht, in dem sowohl zwanzig Jahre DDR und das spezifische Gewicht der Worte dort als auch zwanzig Jahre Nachwendezeit verhandelt werden.

Vom Leben Besitz ergreifen

Die Regisseurin Simone Blattner, die schon viele Heckmannstexte bearbeitet hat, führte auch hier souverän Regie. Anfangs sind zwei der drei Schauspielerinnen Hannelore Koch, Regina Jeske und Helga Werner in einen Stoff gekleidet, der wie der Vorhang hinter ihnen bedruckt ist: So wird Bild, wie das Theater von ihren Körpern und Leben Besitz ergreift. Am Ende ist es auch eine melancholische Hommage an die Flüchtigkeit jeder Aufführung. „C: Das Theater produziert Erinnerungen. Wir haben nichts in der Hand. A: Das Theater ist der Ort der Zweifel und der Fragen und der Möglichkeiten. Aber das hilft uns jetzt auch nicht weiter. B: Das Theater ist eine Dunkelkammer. Nachts komme ich raus und muss mir sagen lassen, dass es ein sonniger Tag gewesen sein soll.“

Die nächste lange Nacht

In den nächsten Tagen wird man Stücke von bekannten Autorinnen, Elfriede Jelinek („Rechnitz. Der Würgeengel“, eine Inszenierung aus Zürich), Sibylle Berg („Hauptsache Arbeit“), und von jungen Nachwuchsdramatikern, Nis-Momme Stockmann („Das blaue blaue Meer“) und Jan Neumann („Das Fundament“), sehen können. Sie wurden weit weg von Berlin uraufgeführt. So ermöglichen die Autorentheatertage einen guten Überblick über die zeitgenössische Dramatik, der so umfassend sonst kaum zu bekommen ist. Zum Abschluss werden dann vier neue Texte, ausgesucht von dem Kinokritiker Michael Althen, in szenischen Lesungen in einer „langen Nacht der Autoren“ am 17. April vorgestellt, um einen Blick in die Zukunft zu werfen.

www.autorentheatertage.de