Hilfe für die Letzten

Das Krankenhaus von Rutshuru ist eine Insel der Wohltätigkeit in einem Ozean des Elends

AUS RUTSHURU DOMINIC JOHNSON

Siriyaka Nyiramageri ist 90 Jahre alt. Jedenfalls steht als Geburtsjahr 1915 auf der Wählerkarte der kleinen Frau. Die alte Dame reicht ihrem König nicht mal bis zur Schulter, sie gehört zu den Pygmäen, Kongos Ureinwohnern. Der König neben ihr heißt Mwami Paul Ndeze, er trägt seinen Schnauzbart und seinen Wanst durch die Pygmäensiedlung am Rande der ostkongolesischen Kleinstadt Rutshuru und führt seine Untertanen der Weltpresse vor.

„Hol mal deine Papiere!“, gebietet er. Die alte Frau schlüpft in ihre kleine, dunkle Hütte und bringt eine verstaubte Lederhandtasche, aus der sie eine Plastikhülle mit ihren Dokumenten zieht, an oberster Stelle ihre orange Wählerkarte. Das ist im Kongo heute das einzige anerkannte Identitätsdokument. Siriyaka Nyiramageri überreicht sie gebeugt dem König.

„Soll sie singen?“, fragt der König und grinst. Siriyaka vollführt brav ein paar Tanzschritte und murmelt ein Liedchen, während sie verstohlen dem Mwami einen vernichtenden Blick zuwirft. Dann fängt sie an, energisch zu schimpfen. Das Grinsen des Königs gefriert. „Sie sagt“, flüstert ein amüsierter Dorfbewohner, „immer wenn ich zu dir komme, hast du keine Zeit. Aber jetzt kommst du zu mir und zeigst mich deinem Besuch. So geht das doch nicht!“

Die Pygmäen des Kongo stehen an unterster Stelle der sozialen Rangordnung. Sie haben bis heute kein Recht auf eigenes Land. Hier in Rutshuru, im äußersten Osten des Kongo, errichteten vor achtzig Jahren die belgischen Kolonialherren für die ruandischstämmige Hutu-Mehrheit ein „traditionelles Königtum“. Der „Mwami“, der König, kann Land zuweisen und Streitereien schlichten. Es war der Großvater des heute regierenden Mwami, der die Pygmäen hier angesiedelt hat, als Tagelöhner.

20 Pygmäen-Familien leben heute hier, 200 Menschen. „Sie haben keine eigenen Äcker“, erklärt Honoré Hitimana, ein Bauer, der hier seine Arbeiter anheuert. „Aber sie können arbeiten. Sie kommen zu mir, ich gebe ihnen Geld, dafür müssen sie meine Felder bestellen.“ Er blickt abschätzig auf seine Tagelöhner. Pygmäen gelten im Kongo als unrein. Tatsächlich zeigen viele ihrer Kinder Zeichen von Unterernährung oder mangelnder Hygiene: schwärende Wunden, Krätze, leicht geblähte Bäuche.

„Wir brauchen Hilfe“, erklärt Kamena Badahirwa, der Chef der Pygmäensiedlung, den Gästen. Er stellt sich vor dem Bauch des Mwami auf und zeigt auf seinen eigenen. Der ist viel kleiner. „Wir haben Hunger“, sagt einer der Pygmäen. Mwami Paul Ndeze kichert: „Wie, hast du etwa keinen Whisky da?“ Pygmäen als faule Trunkenbolde, das ist ein beliebtes Klischee. Aber Kamena bleibt sachlich. „Wir brauchen Salz“, sagt er. „Und Medikamente. Wenn wir zum Krankenhaus gehen, lässt man uns nicht rein.“

Das Krankenhaus von Rutshuru wird, wie die meisten Krankenhäuser im Kongo, von Ausländern mit betrieben. Hier tut das die französische Sektion von Ärzte ohne Grenzen (MSF), und ihr Vertreter vor Ort, der den Mwami zu den Pygmäen begleitet, ist peinlich berührt von der Forderung des Dorfchefs. „So einfach ist das nicht“, fängt er an zu erklären. „Wenn ihr krank seid, müsst ihr erst mal zur nächsten Gesundheitsstation gehen. Die geben euch dann eine Überweisung.“ Offenbar ist das Gesundheitswesen im Kongo nicht weniger kompliziert als in Deutschland. Pygmäenchef Kamena protestiert: „Der Besuch dort kostet zwei Dollar.“ Zwei Dollar sind das durchschnittliche Wocheneinkommen eines Kongolesen.

Der Mwami verspricht, im Krankenhaus ein gutes Wort für die Pygmäen einzulegen. Fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung ist der größte Killer im Kongo. Der Krieg von 1998 bis 2003 und seine Folgen, vor allem Seuchen, hat Untersuchungen zufolge 3,3 Millionen Tote im Ostkongo gefordert, von 20 Millionen Einwohnern.

Das Krankenhaus von Rutshuru ist eine Insel der Wohltätigkeit in einem Ozean des Elends. Auf einem Hügel stehen gelb gestrichene Flachbauten. Pfleger und Ärzte in weißen Kitteln eilen über die Innenhöfe von einer Station zur nächsten. Angehörige, meist Frauen, warten draußen. Die Stationen sind große Säle, ohne Privatsphäre, teils ohne Bettwäsche, aber immerhin Gelegenheiten zum Ausruhen. Viele Patienten schlafen, Mütter sitzen neben ihren geschwächten Kindern.

Das Krankenhaus hat die Kriege der letzten Jahre überstanden. Das grenzt an ein Wunder. Statt wie früher Rebellen und Milizen bekriegen sich in der Region heute Einheiten der kongolesischen Armee. Es ist ein undurchsichtiger Buschkrieg, die Menschen werden immer wieder ausgeplündert und verjagt.

„Die Rebellen sind während der Ernte gekommen“, erzählt der Mwami in seinem Büro. „Die Menschen mussten fliehen und ihre Ernten zurücklassen. Die Soldaten haben die Ernte und die Tiere der Bauern gestohlen. Jetzt herrscht hier das nackte Elend.“ Was hält er von der internationalen Hilfe? „Es gibt keine Hilfe. Was soll ich also davon halten?“

Doch es gibt sie. Alles im Krankenhaus von Rutshuru kommt von Hilfswerken, Medikamente, Materialien, Gehälter. Eine französische MSF-Helferin schaut empört zu einem Armeelastwagen, der auf dem Krankenhausgelände verwundete Soldaten ablädt. „Dass die mir bloß nicht wieder mit ihren Gewehren in die Station kommen!“, schimpft sie. Später, als sie außer Sichtweite ist, laufen die Soldaten mit Sturmgewehren umher, auf der Suche nach den verwundeten Kameraden. Die Truppe war unterwegs, als ihr Lastwagen umkippte, 20 Soldaten haben Knochenbrüche.

Im Krankenhausbetrieb gehört so etwas zu den leichteren Aufgaben. Allein auf der Kinderstation, 29 Patienten, gibt es Malaria, Atemwegsinfektionen, Anämie, Durchfall, Meningitis. „70 Prozent der Patienten hier haben Malaria“, erklärt Luc Kibukila, einer der Ärzte, beim Rundgang. „Den Menschen hier geht es allgemein schlecht, ihr Hauptproblem ist die Armut. Vier von fünf Menschen hier leben von der Subsistenzwirtschaft, sie leben also von ihrer Ernte. Wenn es aber auf den Feldern nicht sicher ist, können die Menschen aber nicht mehr hin. Sie haben Angst, dass man sie angreift und vergewaltigt. Also bleiben sie zu Hause, und da haben sie nichts.“

Die Endstation der Vertriebenen liegt ein wenig abseits in einem separaten Haus. Hier, auf neun Betten in einem kleinen, nackten Raum, leben unterernährte Kinder mit ihren Müttern. Die Luft ist eng, voller Schweiß und dem leisen Jammern von Menschen, die am Ende ihrer Kräfte sind.

Twaka Kadyoko ist selbst noch ein Kind, ein Mädchen im blau-gelb gestreiften Kleid. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Bett, wie ein braves Schulmädchen. Im Arm hält sie ihre kleine Tochter Fura, zwei Jahre alt, 5.700 Gramm leicht. Furas kecker Blick will so gar nicht zu ihrem verdorrten Gesicht passen, es ist eine Miniaturausgabe des Gesichts ihrer Mutter. Vor drei Tagen sind die beiden aus ihrem Dorf hierher gekommen. Zwanzig Kilometer sind sie gelaufen, „weil wir Hunger hatten. Ich kann nicht mehr aufs Feld, da sind Männer, die mich vergewaltigen wollen“.

Dieser Raum im Krankenhaus ist Hungerstation und Frauenhaus zugleich. Die Kinder liegen entkräftet in den Armen ihrer Mütter oder auf den grün-weißen Laken. Sie bleiben hier mindestens einen Monat, erklärt Schwester Jeannette Kavira, die selbst noch sehr jung ist. „Wir päppeln sie auf und geben ihnen Medikamente. Wir behandeln ihre Infektionen und kümmern uns um ihre Ernährung“, erklärt sie sehr sachlich. Wenn ihre Hungerödeme weg sind, erklärt sie weiter, gehen die Patienten wieder. Sie bekommen ein wenig Proviant und werden nach Hause geschickt, zurück in den Krieg.

37 Kinder sind hier auf der Station. Heute sind gerade drei neue dazugekommen, aus weit entfernten Dörfern. Wenn man aus dem Fenster in die Berge schaut, sieht man üppiges Grün. Dieser Teil des Kongo ist unglaublich fruchtbar. Aber hier sitzen die jungen Mütter vor der Station auf dem Betonboden, staubig und verschwitzt, ihre spindeldürren Kinder haben sie lange tragen müssen. Schwester Jeannette holt die Kinder einzeln ins Behandlungszimmer, sie untersucht sie, legt ihnen Infusionen. Ein kleiner Junge brüllt wie am Spieß, als man ihm die Nadel in den Handrücken sticht. „Erst gibt es Eisenzusätze, dann Antibiotika und Entwurmungsmittel“, erklärt die Schwester der sehr jungen Mutter. Vergeblich versucht sie, den Blick der Frau einzufangen. Aber die kann selbst nicht mehr, sie kann ihrem Kind keinen Trost mehr spenden, drückt ihm nur mechanisch die zappelnden Arme nieder.

Eine der ältesten Frauen auf der Station ist Stammgast. Gahinda Nyeransahimana, die mit resolutem Blick auf dem Bett in der Mitte sitzt, hat schon vierzehn Kinder geboren. Sieben von ihnen sind verhungert, die anderen sieben leben, noch. „Alle meine Kinder kommen hierher“, sagt Gahinda. Sie presst ihr winziges vierzehntes Kind an die Brust wie ein kleines Stofftier, Juliane ist sieben Monate alt und sieben Pfund schwer. Schwester Jeannette erklärt: „Ihre Schwangerschaften kommen zu schnell hintereinander, und oft kriegt sie Zwillinge oder Drillinge. Das gilt als böses Zeichen und man verstößt sie. Ihr Mann ist ein Faulpelz, er tut nichts für die Familie.“ Draußen auf dem Hof steht eine ältere Tochter der Frau mit demselben durchdringend misstrauischen Blick; sie hält den Zwillingsbruder von Juliane auf dem Rücken, er plärrt fürchterlich, seine Beine hängen herab wie dünne Stangen.

Diese Frauen müssen sich mit ihren Kindern durchs Leben boxen. Und wie viele sterben draußen im Busch? Krankenhausdirektor Vincker Lushombo seufzt bei dieser Frage. „Sie kommen her, sie werden behandelt, sie gehen wieder nach Hause und stehen wieder vor dem Nichts.“

Abends, wenn hinter den Bergen die rote Sonne untergeht, sammeln sich die Insassen der Hungerstation zum Essen: In zwei Plastikeimern wird weißer Brei herangeschafft. Mit ihren roten, blauen und grünen Bechern warten die Frauen mit ihren Kindern unter einem Wellblechdach auf die Ration. Weiter unten, in der Stadt, haben sich die Helfer von Ärzte ohne Grenzen und die UN-Soldaten hinter ihre bewachten Tore zurückgezogen: Nach 18 Uhr ist es zu gefährlich in Rutshuru, da geht man nicht mehr nach draußen. Stattdessen hört man im Radio von Wahlen und Friedensprozess. Wie von einem anderen Stern.