Ehe als Passion

EMOTIONALE REISE Der Schriftsteller Rafael Yglesias erzählt von der Intensivierung der Gefühle – der Roman „Glückliche Ehe“

VON DIRK KNIPPHALS

Der Titel des Buches ist aber doch bestimmt ironisch gemeint, oder?

Man kann Wetten darauf annehmen: So etwas wird man gefragt werden, sobald man Kollegen oder Bekannten von diesem Roman erzählt. „Glückliche Ehe“, der Titel macht ja auch tatsächlich stutzig. Wenn es denn schon um Ehen gehen soll, erwartet man in einem modernen Roman doch eher stille Verzweiflung, unausgeglichene emotionale Bilanzen, langsames Gebratenwerden – Erkundungen im Unglück also.

Aber der Titel dieses Buches, im Original „A Happy Marriage“, ist vollkommen ernst gemeint. Dies ist der Roman einer glückenden Ehe, trotz am Schluss furchtbarer Umstände. Genauer gesagt: Es ist der Roman der Anfänge dieser Ehe in den Siebzigerjahren und ihres Endes drei Jahrzehnte später. Die Ehefrau erkrankt an Blasenkrebs, sie besiegt den Krebs, der Krebs kommt zurück. Dann stirbt sie, mit Mitte fünfzig, ganz am Ende des Buches. Und ihr Mann hat sie bis zum Schluss innig gepflegt, in manchen Lebenslagen schließt das Glückliche einer Ehe etwas Tieftrauriges ein.

Eine Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet-Geschichte also, mit unaufdringlicher Brillanz geschrieben, furchtlos in der Darstellung medizinischer und emotionaler Details und stellenweise durchaus mit einigem Pathos. Rafael Yglesias, der vor allem als Drehbuchautor bekannt wurde ( „Der Tod und das Mädchen“, „Les Misérables“), hat hier autobiografisches Material verarbeitet; seine Ehefrau verstarb 2004, die Details kann man im Netz gut nachlesen (www.rafaelyglesias.com). Aber dies ist kein Betroffenenbericht! Es gibt keine Stelle, an der man auch nur auf die Idee kommen würde zu bezweifeln, dass das Buch literarisch sehr ernst zu nehmen ist.

Immer kapitelweise abwechselnd erzählt Rafael Yglesias von den ersten und den letzten Wochen dieser Paarbeziehung. In dem Anfangsstrang lernt man die Bewohner von Greenwich Village, wo der Roman spielt, gut kennen, wie sie inmitten ihres damals noch ziemlich heruntergekommenen Viertels in ihren kleinen Studiowohnungen von Kaffee, Zigaretten und Selbsterfindungsflausen lebten. Angehende Schriftsteller. Unsichere Kunstausprobiererinnen. Vordergründig großspurig auftretende Studenten, die aber in Wirklichkeit hin und her schwankten zwischen Karriereträumen und der Abneigung, so zu leben wie ihre Eltern. So ein Paarroman bietet eine gute Gelegenheit zur Milieustudie, und Rafael Yglesias nutzt sie für eine Zeitreise zurück in Woody Allens Stadtneurotiker-Territorium, im Moment seiner Entstehung.

In diesen Kontext ist das zentrale Paar gestellt. Margaret Cohen hat einen jüdischen Hintergrund, Geld, Queens, reichlich Upper-Class. Enrique Sabas hat den stets schwankenden Hintergrund, den lateinamerikanische Einwanderereltern bieten, die sich mit einem Anti-Establishment-Bewusstsein in New York durchs Leben schlagen. Von den Habitusfragen her böte der Roman auch Material für eine Romeo-und-Julia-Geschichte – nur dass die Meinung der jeweiligen Familien der Hauptpersonen (für beide Schwiegerelternpaare ist es keine Traumverbindung) im Greenwich Village der Siebziger keine Rolle mehr spielt.

Von der Arbeit des Sichverliebens erzählt Rafael Yglesias wie von einem ernsthaften Feldzug. Da gibt es Konkurrenten, die ausmanövriert werden müssen, taktische Finessen (vom allerletzten Geld gekauften teuren Rotwein), zermürbende Stunden des Wartens neben dem Telefon, mal selbstsicher, mal tastend vorgetragene Gesprächsscharmützel. Fragmente einer Sprachfindung für die Liebe.

Im zweiten Handlungsstrang geht es dagegen um die Logistik des Sterbens und das Management des Abschiednehmens. Hier werden vor allem die kleinen Gesten zwischen Margaret und Enrique zentral, die auch angesichts der schweren Zeichen des Todes ihr Recht behaupten. Ein gemeinsames Lachen, während der verstopfte Schlauch gesäubert werden muss, der in Margarets Magen führt und dessen Inhalt in einen Plastikbeutel pumpt (die Verbindung zwischen ihrem Magen und ihrem Darm wurde unwiederbringlich vom Krebs blockiert); die Momente, in denen er das Aufwachen neben seiner noch lebenden Frau als Glück empfindet. Bis zum Schluss vermag Rafael Yglesias dieses Buch als Liebesroman zu beglaubigen.

Als Leser wird man vom Kontrast der Kapitel heftig durchgeschüttelt. Was einen aber wirklich gelegentlich dazu bringt, beim Lesen ein paar Pausen einzulegen, sind keineswegs nur die Einzelheiten der Krankheit. Es ist die Choreografie der Abschiede. Bekannte, Verwandte, Freundinnen, die Eltern, natürlich die beiden Söhne (sehr heikel!) – sie alle bekommen eine letzte Begegnung. Tagelang geht das so. Es ist beim Lesen manchmal schier nicht auszuhalten.

Enrique gibt sich große Mühe, „dieses Ende für alle so gut wie möglich zu gestalten“. Überhaupt geben sich alle Beteiligten unendlich viel Mühe. Rafael Yglesias schildert im Grunde eine sehr luxuriöse Situation. Sein Alter Ego Enrique hat spät, dann aber eben doch noch beruflichen Erfolg gehabt. Er kann es sich leisten, drei Jahre lang nur für seine Ehe da zu sein. Greenwich Village hat sich inzwischen zur attraktiven Nachbarschaften fürs postmodern-hedonistische Segment gewandelt. Auch die medizinische Sterbebegleiterin versteht ihr Handwerk. Alles ist so, wie man es sich nur wünschen kann. Und man denkt beim Lesen, selbst wenn das pathetisch ist: Es ist eine große Lüge, dass Liebe die Dinge leichter macht; im Gegenteil, vieles, Abschiednehmen zum Beispiel, macht sie sehr viel schwerer.

So seltsam es angesichts des Sterbens klingt, dieser Roman spielt konsequent durch, wie eine Ehe im besten Fall laufen kann. Und er vermittelt mehr als nur eine Ahnung davon, dass das Sechzigerjahre-Programm der Ablehnung aller emotionalen Konventionen und sexuellen Regeln in solchen bohemistischen Vierteln wie Greenwich Village eben kein Projekt der Erodierung sozialer Beziehungen war (wie Konservative behaupten), sondern gerade eines ihrer Intensivierung. Dass zu den Konsequenzen auch die Intensivierung von Trauer zählt, muss man dann eben ertragen.

Die Zeit zwischen diesem Anfang und diesem Ende, die dreißig Jahre der Ehe also, holt Rafael Yglesias immer wieder in Rückblenden ein. In einem sehr lustigen Abschnitt erfährt man von Enriques immer wieder scheiternden Versuchen, Margaret ein Geschenk zu machen, das seine ganze Liebe zu ihr ausdrückt. Ein Schmuckstück, das sie nicht mag. Dann ein Fotoapparat, den sie nicht braucht. Die größte Geschenkkatastrophe von allen ist ein Mixer (Margaret: „Was kriege ich nächstes Jahr? Ein Waffeleisen?“). Hochkomisch erzählt Yglesias von der prinzipiellen Schwierigkeit dessen, was Niklas Luhmann in seinem Zauber- und Wunderbuch „Liebe als Passion“ etwas fies mit dem Begriff der Interpenetration bezeichnet hat, der Notwendigkeit der gegenseitigen Durchdringung aller Lebensbereiche in einer Liebesbeziehung. Erst ganz am Schluss findet Enrique ein paar Ohrringe, die ihr wirklich gefallen. Die nimmt sie dann mit ins Grab.

Phasen der Gefährdung gab es auch. Eine ernsthafte Affäre bringt Enrique an den Punkt, an dem er endgültig erkennt, dass eine heutige Liebesbeziehung tatsächlich nur auf dem Willen der jeweiligen Partner gründet zusammenzubleiben. Im Anschluss erfährt man – vom Redenredenreden am Küchentisch bis zur Paartherapie – als Leser einiges über die Mechanismen, die seit den Sechzigerjahren erfunden und ausprobiert wurden, um diesen Willen zu finden und zu bearbeiten und so auch in einer individualisierten Gesellschaft als Paar zu leben.

Am meisten Gewinn hat man von diesem Roman wohl, wenn man ihn als Beschreibung einer großen emotionalen Reise liest. Sie mündet in einen Schluss, der einen sehr beschäftigen kann. In einer Parallelmontage bringt Rafael Yglesias auf den letzten Seiten den Moment des ersten Sexes mit dem Augenblick von Margarets Sterben zusammen. Das ist einerseits recht penetrant, andererseits aber auch verständlich als Versuch, große Bilder zu finden für große Gefühle. An diesem Schluss wird einem das Liebespaar als geradezu asoziales Projekt präsentiert, als ein in sich geschlossenes, intimes System, das andere Menschen – teilweise selbst die eigenen Kinder – ausschließt.

Es ist wirklich nichts Ironisches an dem Titel dieses so tieftraurigen wie lustigen, so lehrreichen wie nahe gehenden Romans.

Rafael Yglesias: „Glückliche Ehe“. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. Klett Cotta, Stuttgart 2010, 428 Seiten, 22,90 Euro