Wahlboykott als Vertrauensbeweis

BERLIN taz ■ Die Lieblingsworte der meisten Regierungspolitiker in Berlin waren gestern: „Vertrauensbeweis“ und „Rückenwind“. Die Kanzlerin interpretierte die Landtagswahlen als „Bestätigung für die bisherige Arbeit der großen Koalition“. Von dieser Lesart ließ sich Angela Merkel auch durch die niedrige Wahlbeteiligung nicht abbringen. Im Gegenteil. Dass so viele Menschen zu Hause blieben, habe wohl daran gelegen, dass die Bundesregierung „ruhig gearbeitet“ habe.

Erst auf Nachfragen bedauerte Merkel den Wählerschwund: „Es kann uns nicht zufrieden stellen, aber ich rate, das nicht zu dramatisieren.“ Schließlich habe es gerade erst eine Bundestagswahl mit hoher Beteiligung gegeben.

In dieser gelassenen Haltung wurde die CDU-Chefin vom Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung bestärkt. Die niedrige Beteiligung sei „auch ein Zeichen für eine gewisse Entspannung“, sagte Bernhard Vogel der taz. Umgekehrt gelte: Extrem hohe Wahlbeteiligungen zeigen hohe Verunsicherung. „Extrem hohe Wahlbeteiligungen gab es nach dem Mauerbau und am Ende der Weimarer Republik.“ Der Grandseigneur der CDU meint, aus dem aktuellen Fernbleiben vieler Wähler sogar stille Zustimmung ablesen zu können. „Die Leute sind zufriedener, als sie es noch bei der Bundestagswahl waren. Sie haben das Gefühl, dass etwas entschieden wird.“

Ob Vogel Recht hat oder nicht: Bisher scheint die große Koalition den jeweiligen Amtsinhabern in den Ländern zu helfen. Entsprechend hin- und hergerissen zeigte sich Friedbert Pflüger, CDU-Spitzenkandidat bei der Berlin-Wahl im September. Der Sonntag habe „gezeigt, dass die große Koalition Vertrauen genießt“, erklärte Pflüger ganz im Regierungsduktus. Als Oppositionsführer in der Hauptstadt, der gegen Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) antreten muss, zeigt er dagegen bereits leichte Resignationserscheinungen. Auf die niedrige Wahlbeteiligung angesprochen, sagte Pflüger der taz: „Das hat sehr viel zu tun mit dem Glauben der Leute: Es ist ganz egal, was sie wählen, weil das sowieso nichts ändert.“ Er mache in Berlin die Erfahrung: „Die Leute glauben, 19 Prozent Arbeitslosigkeit sei naturgegeben.“ Es sei deshalb „eine meiner Hauptaufgaben, den Leuten zu sagen, dass es sehr wohl einen Unterschied macht, wer regiert“. Dabei wolle er auf Länder verweisen, wo sich nach der Machtübernahme der CDU „viel bewegt“ habe.

Etwas hilflos reagierte auch die Opposition im Bundestag. Grünen-Chefin Claudia Roth führte den Wählerrückgang auf das „Friede-Freude-Reformstillstand-Spiel“ der Koalition zurück. Die Regierung erzeuge ein Konsensgefühl, klagte FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt. „Die Leute sind nicht zur Wahl gegangen, weil sie das Gefühl haben, es wird ohnehin alles über ihre Köpfe hinweg entschieden“, meinte Linkspartei-Vize Katja Kipping. „Man kann nicht nur sagen, dass die große Koalition zu weniger Polarisierung führt“, konterte CDU-Fraktionsgeschäftsführer Norbert Röttgen. „Wir haben auch eine schwache Opposition.“ Diese habe es bisher nicht geschafft, irgendeinen Akzent zu setzen. Das drücke sich in der Wahlbeteiligung aus.

LUKAS WALLRAFF