SOZIALMEDIZINISCH
: Die Verzweifelten

Die meisten kamen wegen der Kosten für Verhütungsmittel

Kürzlich querte ich am U-Bahnhof die Blaschkoallee. Früher war ich hier oft, bei den zwei Frauen, die in ihrer kleinen Stube die Schreibmaschinen bedienten. Über zu wenig Arbeit konnten sie sich nie beklagen. Wann immer ich kam, das Wartezimmer war voll. Traurig war es auch. Ein abgegriffenes Schaukelpferd, dessen Schweif einem angefressenen Besen ähnelte, zerrupfte Bilderbücher und stapelweise Infomaterial zu HIV, Hepatitis, ungewollter Schwangerschaft, Frauenhäusern, Zwangsräumung.

Ganz klar: hierher kamen nur die Armen und Verzweifelten. Aber davon viele. Es wären noch mehr gewesen, hätte man den Sozialmedizinischen Dienst in einem Branchenbuch oder über die Telefonhotline der Stadt finden können. Die Stadt aber verweigert die Auskunft. Das Internet auch. Tatsächlich hatte der Dienst eine Durchwahl. Geöffnet war dreimal die Woche für drei Stunden. Ich stand häufig vor verschlossenen Türen.

Die meisten kamen, um die Kosten für Verhütungsmittel übernommen zu bekommen. Junge Frauen im Dutzend, die meisten sauerstoffblond gefärbt oder kopftuchtragend, fast alle mit zwei, drei Kleinkindern.

Dann schloss der Sozialmedizinische Dienst Neukölln. Nicht weiter verwunderlich, so richtig gab es ihn ja nie. Schon damals hatte ich mich gefragt, ob die beiden Frauen nicht eine Wohnung angemietet hatten und mit selbst gemachten Stempeln blaue Kreise auf Rezepte drückten. Als ich sie beim letzten Termin fragte, was denn nun sei, zuckte die eine nur mit den Schultern. Die neue zentrale Anlaufstelle im Urbankrankenhaus würden die meisten nicht erreichen. Eine Fahrkarte, so die Angestellte, könnten die sich nicht leisten. Von da ab fuhr ich ins Urbanklinikum, mit Monatskarte. Und wirklich. Das Publikum dort war anders: Studierende, Kinderlose, sogar Männer. Aber die Frauen aus Britz sah ich nie wieder. SONJA VOGEL