Jukebox

Visionäre tobten bereits 1990 durch die Reformhölle

Die Woche jetzt ist eine bemerkenswerte – umfasst sie doch mit Konzerten von Tomte heute und morgen im Postbahnhof und Element Of Crime am Montag in der Arena 20 Jahre und damit drei Generationen Popmusik aus Deutschland. Tomte produzieren die Musik zurzeit, den Soundtrack des Glücks im Reformunglück, für irrlichternde 20- und 30-Jährige von heute. Element Of Crime sind von gestern, vermögen aber aus vielerlei Gründen noch heute den Gefühlshaushalt der 40-Jährigen und drüber auszutarieren und mitzubestimmen.

Weder Tomte noch Element Of Crime, wie wir sie heute kennen, wären möglich ohne Cpt. Kirk &. und ihren Mastermind Tobias Levin. Cpt. Kirk &. bilden das Scharnier, auf dem Element Of Crime und Tomte ineinander gleiten, nennen wir es Hamburger Schule, nennen wir es den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. „Stand rotes Madrid“ hieß das Cpt. Kirk &.-Debüt, das 1986 definierte, wie Noise und Psychocandy auf Deutsch ging – und Element Of Crime waren in Folge mit ihren englischsprachigen Platten eher die Lieblinge von Jura-Studenten mit Restrebellionspotenzial und kurz vor Studienabschluss und Bausparvertrag.

Inspirierte Levin dann Bands wie Die Erde und Kolossale Jugend zu deutschsprachigen Texten (Element Of Crime folgten!), so produzierte er schließlich mit „Reformhölle“ eine Platte, die immer in einem Atemzug mit Blumfelds „Ich-Maschine“ genannt wurde. Die aber keineswegs stilbildend war, sondern ein solitäres Meisterwerk. Indie-Rock mit Jazz-Ästhetik, Klavier statt Leadgitarre, Musikologie mit Politapproach, Talk Talk statt Noise, aber mit den Neubauten und Big Black als Rüstzeug und einem bohrend-verbissen singknödelnden Tobias Levin.

„Reformhölle“ bewies, dass Radikalität und Schönheit sich nicht ausschließen mussten, dass die Klarheit im politischen Lied einhergehen konnte mit der Klarheit einer musikalischen Produktion – auch wenn Cpt.-Kirk-&.-Texte zum Experimentell-dadaistischen tendierten, so à la „Und jede Mark bringt Ärger rund“ oder „Gebt dem Gesangsversager Gnade“. Die bekommt auch der Thees von Tomte für seine Lyrics: „Hinter all diesen Fenstern sitzen Menschen“, aha! Und dafür, sich von Cpt. Kirk &. allein die Wohligkeit, das „Kommt zusammen und kommt alle zugleich“ übernommen zu haben. Aber es ist ja 2006, nicht 1992, und da ist in der Popmusik das Trostspenden mehr angesagt als das Senden von politischen Botschaften. GERRIT BARTELS