Liberalismus – einst demokratisch und sozial

Was noch in Rheinland-Pfalz existiert und vor allem für Beharrung steht, war ab 1969 im Bund ein Regierungsmodell, das einen Aufbruch wollte, der „reaktionäre Kräfte“ in der Gesellschaft stoppen sollte: die sozialliberale Koalition

Wenn der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle auf die 68er schimpft, dann stellt sich die Frage, ob er die Geschichte seiner Partei nicht kennt – oder ob er auf die Kenntnislosigkeit seines Publikums vertraut. Es ist nämlich zweifelhaft, ob die FDP ohne die außerparlamentarische Opposition dieser Zeit in Deutschland heute noch irgendeine politische Bedeutung hätte.

Bei der Landtagswahl in Rheinland Pfalz am kommenden Sonntag hofft die Partei auf den Wunsch der Bevölkerung nach Kontinuität, mithin nach Fortsetzung der sozialliberalen Koalition. Die Rolle der Bewahrerin des Bestehenden nahm die FDP auch in den letzten Jahren der Regierung Kohl ein. Ihr Überleben jedoch verdankt die Partei dem Wunsch nach Erneuerung.

In den Jahren der großen Koalition von 1966 bis 1969 drohte die kleine Opposition zwischen den Regierungsfraktionen zerrieben zu werden. Der überwältigenden Mehrheit von über 450 Abgeordneten der Union und der SPD standen nur 50 FDP-Parlamentarier gegenüber. Sie verfügten nicht einmal über eine Sperrminorität. Außerdem, für die Partei noch weit gefährlicher, gab es ernsthafte Überlegungen, das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Dies hätte das parlamentarische Ende der FDP bedeuten können.

Vor diesem Hintergrund gewannen Kräfte an Einfluss, die eine Neuorientierung der Partei hin auf einen „demokratischen und sozialen Liberalismus“ forderten. Begünstigt wurden sie auch durch einen Wandel der Wählerstruktur: Weniger Selbstständige und mehr leitende Angestellte als früher unterstützten die FDP, die ein gestiegenes Interesse an Chancengleichheit zeigten.

Ein Artikel von Schatzmeister Hans Wolfgang Rubin leitete 1967 den Wandel ein: Es gelte, „reaktionäre Kräfte“ in der Gesellschaft zu stoppen und „den im Grundgesetz konzipierten liberalen Staat zu schaffen“. Im Januar 1968 wurde auf dem Freiburger Parteitag der nationalkonservative Erich Mende als Parteivorsitzender von Walter Scheel abgelöst. Der Soziologe Ralf Dahrendorf machte in einer viel beachteten Rede die „Erstarrung der Verhältnisse“ für die „Unruhe, die sich vielerorts breit macht“, verantwortlich. Er forderte eine „Gesellschaftspolitik der Liberalität“. Außenpolitisch definierte Walter Scheel den neuen Kurs: Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, Normalisierung der Beziehungen zur DDR.

Die ersten Schritte hin zu einer Annäherung an die SPD waren getan. Verlobung wurde im März 1969 gefeiert: Da gaben die FDP-Delegierten in der Bundesversammlung dem sozialdemokratischen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ihre Stimme. Gustav Heinemann wurde im dritten Wahlgang gewählt. Der Koalitionswechsel war vorbereitet. Bei den Wahlen im folgenden Herbst war es nicht die absolute Mehrheit der Bevölkerung, die einen Regierungswechsel wünschte – aber die Wechselstimmung im Land war stark genug, um die Bildung einer sozialliberalen Koalition zu ermöglichen. Die FDP hatte allerdings dramatische Verluste hinnehmen müssen – 3,7 Prozent – und schaffte den Einzug in den Bundestag nur knapp.

Dennoch hielt die Partei zunächst Kurs. Im Jahr 1971 gab sie sich ein neues Grundsatzprogramm. Die „Freiburger Thesen“ zielten auf eine „Demokratisierung der Gesellschaft“ ab und versuchten, den klassischen Liberalismus um die soziale Dimension zu erweitern. Der Lohn der neuen Politik: 8,5 Prozent bei den Wahlen 1972.

Es war der Höhepunkt und – zugleich der Anfang vom Ende. Die Ölkrise und steigende Arbeitslosenzahlen stärkten die wirtschaftsliberalen Kräfte der Partei. Im Jahr 1982 gelang es diesem Flügel der FDP unter Otto Graf Lambsdorff, den Regierungswechsel zu erzwingen.

Und als was gilt die sozialliberale Koalition heute? Als eines von mehreren möglichen Bündnissen. Nicht mehr, nicht weniger. Die Risiken, aber auch die Chancen, die mit einem grundlegenden politischen Wandel verknüpft sind, werden mit dieser Konstellation längst nicht mehr verbunden. BETTINA GAUS