Sie nehmen Partei

NACHWUCHS Politisch was bewegen? Doch nicht bei der Ortsvereinssitzung! Oder mit Luftballons am Wahlkampfstand! Wir haben sechs junge Menschen begleitet, die genau das versuchen

Jahre alt sind die Mitglieder der Linkspartei im Durchschnitt, 59 Jahre die von CDU, CSU und SPD, 53 die der FDP. Die Grünen sind nur unwesentlich jünger: im Durchschnitt 48 Quelle: FU Berlin

Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren finden:„Politiker/innen sprechen absichtlich eine abgehobene Sprache.“ Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung

Petitionen wurden im Jahr 2012 beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags eingereicht – ein leichter Anstieg gegenüber 2011 Quelle: Deutscher Bundestag

Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren gehören einem Sportverein an, 3 Prozent einer politischen Vereinigung oder einer Partei Quelle: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest

Mitglieder hat die SPD, sie ist die größte Partei in Deutschland. Die anderen: CDU 469.575, CSU 147.965, Linke 63.761, Grüne 59.653, FDP 58.675 Quelle: Parteien

VON ESTHER GEISSLINGER, JOHANNES GERNERT, MARLENE HALSER, NADINE MICHEL, EMILIA SMECHOWSKI
UND ANDREAS WYPUTTA

Eine Kneipe, wie sie immer seltener wird im Ruhrgebiet, beherbergt an diesem Abend im Februar eine Partei, die immer seltener wird im Ruhrgebiet. Zwölf Genossen sind gekommen in die Gaststätte Dreyer, ins Hinterzimmer, von einer Falttür aus Plastik getrennt, dunkles Holz, Rauchschwaden, drei Männer an der Theke. Es ist, als hätte hier jemand in den sechziger Jahren auf Pause gedrückt.

Doch heute ist etwas anders. Der Vorsitzende des Ortsvereins der Bochumer SPD Langendreer-Dorf ergreift das Wort. „Liebe Genossinnen, liebe Genossen, wir begrüßen sehr herzlich unsere neue Genossin Christina Groß.“ Klatschen. Groß ist nicht nur neu, sie ist auch jung. 21 Jahre alt, im vierten Semester Studentin des Bauingenieurwesens, Hobbyfußballerin. Die Mutter medizinisch-technische Assistentin, der Vater Schlosser. Ein Arbeiterkind in der Arbeiterpartei!

„So eine junge Genossin hatten wir schon lange nicht mehr“, sagt der Vorsitzende und strahlt. Christina Groß sagt nichts. Sie hört zu. Sie hört, wie der Vorsitzende eine Bilanz des letzten Jahres zieht. Dass die Ostereierverteilaktion ein großer Erfolg war. Und dass der Ortsverein wohl mit einem anderen zusammengelegt wird. Zu wenige Mitglieder.

Nach zwei Stunden will sie aufstehen und gehen, eine Verabredung. Ihr Sitznachbar hält sie am Arm fest und raunt: „Komm wieder!“

Die deutsche Demokratie hat ein Nachwuchsproblem. So steht es in zahlreichen Studien, so postulieren es Politologen seit Jahren. Lediglich 17 Prozent aller jungen Menschen können sich heutzutage noch vorstellen, in einer Partei aktiv zu sein, heißt es in der aktuellen Shell-Jugendstudie. Die Jugend, ein hedonistischer Haufen, spaßverdorben, aufs Ego konzentriert. Interesse an der Gesellschaft, in der sie leben, an der Politik, am Großen und Ganzen? Ach nö.

Es gehörte mal zum guten Ton, politisch zu sein

Gar nicht lange her, da war das anders: In den siebziger und achtziger Jahren, auch das steht in der Shell-Studie, gehörte es zum guten Ton, als junger Mensch politisch interessiert zu sein. Gut die Hälfte der Jugendlichen äußerte sich damals so, inzwischen ist es nur noch ein Drittel.

Und doch gibt es sie, die Jungen, die einen Schritt mehr wagen. Einen Antrag ausfüllen, online, auf Papier. Und damit in eine Partei eintreten.

In die SPD wie Christina Groß, 21, Studentin des Bauingenieurwesens in Bochum.

In die Linkspartei wie Christian Torenz, 26, Finanzberater in Berlin.

In die CSU wie Kaya Dreesbeimdiek, 17, Schülerin in Dachau.

In die FDP wie Sarah Lemke, 31, Simultandolmetscherin in Kiel.

Bei den Grünen wie Ines Buschlüter, 23, Lehramtstudentin in Stuttgart.

In die CDU wie Jasper Schwenzow, 21, Student des Wirtschaftsingenieurwesens in Cottbus.

Diese sechs jungen Menschen haben wir begleitet. Vom Eintritt in die Partei oder ihrer ersten Ortsvereinssitzung vor ein paar Monaten bis zum Beginn ihres ersten Wahlkampfs.

Warum machen die das? Was treibt junge Menschen, die gerade dabei sind, ihr Leben allein zu gestalten, die viele Möglichkeiten haben, in eine Partei? Mit quälend langweiligen Parteitagen, Anträgen, Rednerlisten und Ortsvereinen, die in dunklen Hinterzimmern tagen?

Wenn man das Arbeiterkind Christina Groß nach dem Grund fragt, fängt sie an, in Schlagworten zu sprechen. „Soziale Gerechtigkeit“ sei ihr wichtig, sagt sie, „Chancengleichheit“ auch. Worte, die einst die Seele der SPD ausmachten, der Aufsteigerpartei. Viele sagen heute, das S im Parteinamen sei zu einem inhaltsleeren Buchstaben verkommen.

In den vergangenen sieben Jahren hat der Ortsverein Langendreer-Dorf fast zwei Drittel seiner Mitglieder verloren. Trotz der Nähe zum Opel-Werk, das von der Schließung bedroht ist. Oder deswegen. Viele Arbeiter fühlten sich verraten durch Schröders Agenda 2010, weil ihre Bekannten oder sie selbst betroffen waren. Nun sterben die Mitglieder weg, neue kommen kaum nach. Christina ist das erste Neumitglied nach neun Monaten. Der davor war ein Mann, Jahrgang 1964.

Wer heute eintritt, lässt sein Parteibuch selten verstauben. Er entscheidet sich – und will auch etwas tun

Warum die SPD? Die CDU „zu religiös“, die FDP die „Partei der Reichen“. Linkspartei? Grüne? „Ja, die Grünen“, sagt Christina. „Auch ganz okay – sonst würden wir ja nicht mit denen koalieren.“ Wir. Denen. Das Lagerdenken hat sie bereits verinnerlicht.

Viel Zeit bleibt ihr jedoch nicht für „die Partei“, wie die SPD im Ruhrgebiet vereinzelt immer noch genannt wird. 35 Stunden die Woche gehen fürs Studium drauf, 20 für den Fußballverein, 10 für den Aushilfsjob in einem Ingenieurbüro. Trotzdem ist sie am 12. 12. 12 eingetreten, ein Schnapsdatum; „an diesem Tag musste ich einfach etwas Wichtiges machen“.

Sie möchte erreichen, dass das Bafög erhöht wird. Das sei in einer Zeit, in der immer weniger Kinder geboren würden, eine „Frage der Vernunft“.

Als Erstklässlerin lief Christina Groß während eines Wahlkampfs durch die Straßen und schrie: „CDU, du blöde Kuh, lass die SPD in Ruh!“ Die SPD war die Partei mit den Luftballons. Heute ist Christina Groß ihre Delegierte für die Stadtbezirksversammlung Bochum-Ost. Sie will Wahlplakate an Laternen hängen. Das ist auch nötig. Dem Ortsverein fehlen schon lange Leute, die auf eine Leiter steigen können, heißt es.

So etwas wie Wahlplakate kleben macht Christian Torenz eher widerwillig mit. „Es muss halt sein“, sagt er. Es ist ein heißer Freitag im August im Café Luxemburg, Berlin-Mitte, und Christian Torenz schiebt sich ein Stück Schweinsbraten auf die Gabel, Bratkartoffeln, Salat. Schmeckt besser als in der Kantine der Parteizentrale, sagt er. Und die Portionen sind größer.

Torenz sieht aus wie einer, der gerade der Jungen Union entwachsen ist. Dunkle Anzughose, das Hemd so weiß, dass es in der Sonne leuchtet. Darauf ein Aufdruck in Türkis: „Torenz und Partner. Soziale Finanzberatung“. Sozial, weil seine Firma, wenn sie Geschäftskunden und Privatleute finanziell berät, nicht nur auf die Rendite schaut. Sondern auch darauf, dass ein Unternehmen Kinderarbeit ablehnt, Diktaturen und Menschenhandel. Einmal ist er aufgestanden und hat zu einem Kunden gesagt: „Ich berate Sie nicht.“ Der hatte im Bücherregal „Mein Kampf“ stehen, und eine Reichkriegsflagge.

„Manche sehen Nazis nicht“, sagt Christian Torenz. „Ich wurde früh dafür sensibilisiert.“ Er kommt aus einem Dorf in Brandenburg, 900 Einwohner. Und wenn die Schnürsenkel nicht gewesen wären, wäre aus Christian Torenz vielleicht gar kein politischer Mensch geworden. Und kein Mitglied der Linkspartei.

Es war in der achten Klasse, da musste er eines Tages seine Schuhe mit anderen Schnürsenkeln binden als mit den geliebten dicken. Die Schule hatte ein Naziproblem. Kleidung, die auf eine politische Richtung hindeutete, war verboten worden. „Ich habe überhaupt nicht verstanden, was meine Schnürsenkel damit zu tun hatten. Ich war doch nur ein normaler HipHopper“, sagt Torenz. Er startete eine Unterschriftenaktion. Sie scheiterte, aber Torenz begann nachzudenken. Kann man Nazis bekämpfen, indem man einfach ihre Kleidung verbietet?

Mit 15 der nächste Moment, der ihn politisierte. Es waren Landtagswahlen, sein Vater kam gerade aus dem Wahllokal. „Und, was hast du gewählt, Papa?“, fragte Torenz. „DVU“, sagte der Vater. Die rechtsextreme Deutsche Volksunion. Ein Schock. Der nur langsam nachließ, als die beiden miteinander sprachen. Und der Vater versprach, es nie wieder zu tun. Sie hatten sich schon oft gestritten. Darüber, dass Torenz kiffte, über das Outing eines schwulen Jungen im Dorf. Aber sie hörten nicht auf, miteinander zu sprechen. „Ich glaube, mein Vater hat durch die Auseinandersetzung mit seinen Kindern viel gelernt“, sagt Torenz. Er selbst wahrscheinlich auch. Argumentieren. Die Gegenseite ernst nehmen. Und versuchen, sie sanft vom Gegenteil zu überzeugen.

Mit 16 zog Torenz nach Berlin, in den Wedding, das alte Arbeiterviertel. Eine Ausbildung brach er ab, arbeitete bei einer PR-Agentur, machte mit 22 sein Abi nach und gründete seine Firma.

Das wichtigste Wort in Torenz’ politischem Leben: Sportanlagennutzungsverordnung. Die regelt, welche Sportvereine welche Plätze in Berlin wann nutzen dürfen. Klar ist, es gibt zu viele Vereine für zu wenige Plätze. Was das mit Politik zu tun hat? „Ich will, dass die Vereine bevorzugt werden, die sich in ihrer Satzung klar gegen Rassismus aussprechen“, sagt Christian Torenz. Früher hat er selbst Fußball gespielt, nach zwei Bänderrissen reicht es nur noch zum lockeren Kicken im Park. Sport macht er trotzdem.

Ein Samstag Ende Mai im Berliner Wedding, es sollte das Sommerfest des Vereins „Roter Stern“ sein – doch es ist, als hätte jemand von oben die Dusche angestellt, so stark fällt der Regen. Der Verein, dessen Vorsitzender Torenz ist, setzt sich gegen Rassismus im Fußball ein. Etwa fünfzehn Jungs, alle mit Migrationshintergrund, lassen sich von den kleinen Seen nicht stören, die sich auf dem grünen Tartan gebildet haben. „Gib rüber, gib rüber!“, schreit einer. Außerhalb des Fußballgitters haben die Linken ihren Stand aufgebaut, die Grünen eine Torwand. Doch weit und breit keiner, der auf die Wand schießen will. Die Bauchtanzgruppe und die SPD haben abgesagt. Zu nass.

Ob die Jugend in Deutschland politikverdrossen ist? „Das glaube ich nicht“, sagt Torenz. Das Problem sei ein grundsätzliches. „Vor allem wir jungen Menschen haben verlernt, Spaß zu haben, der selbst gestaltet ist und nicht beispielsweise auf Konsum beruht. Wir fühlen uns überfordert, ständig wollen wir uns zurücklehnen, ausruhen, um uns wieder arbeitsfähig zu machen. Auch unsere Freizeit soll zeiteffizient sein. Wie weit kann diese Entwicklung noch gehen, wenn sogar unser Bildungssystem nicht mehr darauf ausgerichtet ist, uns zu mündigen Bürgern zu formen?“

Torenz kennt die Antworten nicht. Aber die Fragen stellt er schon mal. Wenn auch nicht an sein eigenes Leben. Seine Arbeitswoche hat 60 Stunden. Dann noch der Verein, die Basisorganisation, Wochenendfahrten, die er für die Weddinger Jugend organisiert. Seine Freundin sieht er selten.

Der Arzt hat ihm gesagt, er muss gut essen bei diesem Pensum und seinen 68 Kilo. Das schafft er nicht immer. Trotz der Erinnerung, die zweimal täglich auf seinem Smartphone aufblinkt: „Iss was!“ Nur nach dem Kiffen, da kriegt er regelmäßig einen „Fressflash“, wie er sagt. Er will, dass Drogen legalisiert werden. „Den Staat geht es nichts an, ob ich mich berausche oder nicht. Da bin ich vielleicht sogar FDPler.“

Ein höheres Bafög, die dicken Schnürsenkel tragen, legal kiffen: Engagiert sich, wer vor allem die eigenen Interessen vertreten will? Vielleicht ist es eher so, dass der Moment, in dem ein junger Mensch politisch zu denken beginnt, meist ein persönlicher ist. Ein Moment der Ungerechtigkeit, des Nichtverstehens, der Wut. Ist nicht, wer selbst betroffen ist, am überzeugendsten?

Sarah Lemke ist betroffen. Aktiv sein kann sie dennoch nicht. Jeden Monat überweist ihr der Staat Geld aufs Konto. Hartz IV. Seit Jahren schon. Mit 21 hatte sie einen Sportunfall, seitdem hat sie Schmerzen im Rücken.

■ Das Projekt: Im Jahr der Bundestagswahl haben wir uns auf die Suche nach jungen Menschen begeben, die sich in politischen Parteien engagieren. Obwohl es doch immer heißt, die Parteiendemokratie habe Nachwuchsprobleme, Parteien seien nicht mehr glaubwürdig, seien verstaubte Organisationen. Warum also noch in eine Partei eintreten? Was erwarten die Jungen davon? Können wir noch an Parteien glauben? Sechs junge Menschen haben wir seit Jahresbeginn begleitet.

■ Die Protagonisten: Wir trafen Christina Groß, 21, Studentin des Bauingenieurwesens aus Bochum und SPD-Mitglied; Christian Torenz, 26, Finanzberater aus Berlin und in der Linkspartei; Kaya Dreesbeimdiek, 17, Schülerin aus Dachau und in der CSU; Sarah Lemke, 31, Dolmetscherin aus Kiel, FDP; Ines Buschlüter, 23, Lehramtsstudentin aus Stuttgart und Mitglied bei den Grünen sowie Jasper Schwenzow, 21, Student des Wirtschaftsingenieurwesens aus Cottbus und CDU-Mitglied.

Sie ist 31, ihr Haar trägt sie kurz, sie sitzt gegen ein Kissen gelehnt in ihrer Kieler Wohnung. Wie passt ausgerechnet sie in eine Partei, deren Exvorsitzender Guido Westerwelle zum Sozialstaat nur die „spätrömische Dekadenz“ einfiel? Die Leistung als Motor des Menschen propagiert und durchs Raster fallen lässt, wer sie nicht erbringen kann. „Ja, das ist ein gewisser Zwiespalt“, sagt Lemke. Aber auch bei den anderen Parteien sei nicht alles perfekt und von der Grundhaltung her stimme sie mit der FDP überein.

„Ich bin ein großer Befürworter der Eigenverantwortung. Damit es nicht da fehlt, wo Hilfe nötig ist“, sagt sie. Und: „Gerechtigkeit heißt nicht Gleichheit.“ Ein neoliberaler Klassiker.

Lemke lebt als Frau, fühlt sich aber als Mann. Auch dieser Aspekt gefalle ihr an der FDP, dieses „Jeder nach seiner Fasson“. Zur Partei ist sie gekommen wie zu ihrem Glauben: über den Kopf. Zehn Jahre lang suchte Lemke nach der richtigen Religion, evangelische Kirche, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Schamanismus. Am Ende wurde es die katholische Kirche, sie schien am besten zu passen. Der Weg durch die Parteienlandschaft ging schneller, Lemke ließ sich Programme schicken, las und prüfte. Am Ende wurde es die FDP. Sie schien am besten zu passen.

Warum sich jemand für die eine und nicht die andere Partei entscheidet, ist heute viel schwerer auszumachen als früher, da sind sich Politologen einig. Die eigene Sozialisation, das Umfeld, die Familie sind Faktoren. Aber nicht mehr so stark. Papa in der SPD = Sohn in der SPD? Das war einmal. Der Eintritt in eine Partei wird zunehmend individuell entschieden.

Die großen Fragen – und der individuelle Nutzen

Es geht nicht mehr nur um Ideologien und die großen Fragen, um Frieden, Umwelt, soziale Gerechtigkeit. Sondern vermehrt auch um den eigenen Vorteil. Was kann mir diese Partei bieten? Und nicht mehr nur: Was kann ich für die Partei tun? In den Lebenslauf politisches Engagement, vielleicht sogar ein Amt schreiben zu können, nützt im Job oder bei der Jobsuche. Wer seine rhetorischen Fähigkeiten verbessert, kann sich auch beruflich besser durchsetzen. Man lernt, zu kommunizieren, zu streiten, vernetzt sich.

Kaya Dreesbeimdiek hat bereits Folgendes erreicht: Schülerpraktika in der Regionalredaktion der Süddeutschen Zeitung, bei Siemens, bei der Rückversicherung Munich Re, bei der Sparkasse. Drei Monate in Quebec, um ihr Französisch zu verbessern. Schriftführerin im Landesvorstand der Schülerunion. Ein Frühstudium, „International Management“, abends und am Wochenende. Ihr Morgen beginnt um 5.45 Uhr. Eine Stunde Zeitungslektüre vor der Schule. „Man braucht eben ein gutes Zeitmanagement“, sagt sie.

Das hat sie noch vor: Abitur im nächsten Jahr, dann BWL-Studium, dazwischen Praktika in einer Unternehmensberatung oder einem Pharmaunternehmen, wie die Mutter.

Nun sitzt sie unter einem Sonnenschirm am Karlsfelder See bei München, ein Abend im Sommer. Kaya Dreesbeimdiek, 17 Jahre alt, trägt ein hellgelbes Kleid mit blauen Schwalben drauf, Lackschuhe, Perlenohrringe. Sie streicht Namen von der Gästeliste, überreicht Gutscheine für ein Freigetränk und sagt dabei: „Einen wunderschönen Abend und ganz viel Spaß für Sie.“ Die Frauenunion ihres Ortsverbands hat eine „Ladies Party“ organisiert.

Die CSU also. „Ich würde schon sagen, dass ich konservativ bin“, sagt Kaya Dreesbeimdiek. Fragt man sie nach den politischen Zielen der CSU, die sie befürwortet, muss sie ein bisschen überlegen. Sie sei, zum Beispiel, gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, man solle sich für ein Land entscheiden, sagt sie. Sie ist gegen die Frauenquote, „Frauen sind schließlich tough genug“. Und: „Ich finde auch nicht, dass das Mutterdasein eine Reduktion ist.“

Kaya Dreesbeimdiek darf noch nicht einmal wählen, formuliert ihre Sätze aber schon wie eine Berufspolitikerin. „Mit Florian Scherf, dem Ortsvorsitzenden von Schwabhausen, arbeite ich eng zusammen.“

Ihren Mitgliedsantrag füllte sie letztes Jahr auf dem Parteitag aus. Ein paar Wochen später kam das Paket – ein Kugelschreiber mit Parteilogo, ein Block, das Parteiprogramm, eine Autogrammkarte von Horst Seehofer. Die hat sie noch immer. Sie liegt in ihrem „Politikfach“ zu Hause.

Kaya Dreesbeimdiek schlendert mit ihrem Sektglas über den Rasen, sie schüttelt Hände, ein paar freundliche Worte, sie nickt, lächelt, wirft die braunen langen Haare zurück.

Mehr Bafög, dicke Schnürsenkel, legal kiffen: Engagiert sich, wer vor allem eigene Interessen vertritt?

Was sind meine Ziele? Was bringt mir eine Mitgliedschaft bei der CSU? Nach diesen Kriterien hat sich Kaya Dreesbeimdiek entschieden.

Ihr Ziel des Abends: „Später möchte ich noch mit der Landesvorsitzenden der Jungen Union Bayern reden und ihr dazu gratulieren, dass die JU so viele Punkte im Bayern-Plan der CSU untergebracht hat.“ Der Bayern-Plan ist das Parteiprogramm.

Ist es schlimm, wenn ein Parteieintritt nicht überwiegend aus altruistischen Motiven erfolgt? Man muss doch nicht immer die Welt retten wollen! Man darf doch wohl auch an die Karriere denken, an die eigene und nicht die Zukunft aller! Oder?

Auch wenn die Mitgliederzahlen sinken: Die absolute Zahl der Arbeitsstunden, die Menschen für ihre Partei aufwenden, ist seit Jahrzehnten gleich geblieben. Das hat der Siegener Parteienforscher Tim Spier herausgefunden. Was sinkt, ist schlicht die Anzahl der Karteileichen. Denn wer heute eintritt, lässt sein Parteibuch seltener verstauben als früher. Er entscheidet sich – und will dann auch etwas tun.

Hinzu kommt: Mit der Ideologie schwinden auch die Flügelkämpfe. Fundi oder Realo? „Ich finde, das ist eigentlich völliger Blödsinn“, sagt Ines Buschlüter. „Für mich passt diese Unterteilung nicht mehr.“

Buschlüter steht in roter Regenjacke am Eingang zur Stuttgarter U-Bahn und setzt ihren Fahrradhelm auf. Es ist Wahlkampf, und die Grünen haben eine Radtour zu einem Kräutergarten organisiert. Vor allem radeln Grüne mit, vereinzelt auch andere. „Hm, na ja“, sagt Ines Buschlüter. „Vielleicht geht es mehr um das Image: Dass wir Grüne grundsätzlich Präsenz bei Projekten zeigen, die wir gut finden.“ Das Wochenende davor wollte Buschlüter Jutebeutel bemalen lassen, an einem Parteistand auf einem Straßenfest. Da kaum jemand kam, bemalte sie sie gemeinsam mit der Grünen Jugend einfach selbst.

Buschlüter ist 23, wie für viele in ihrem Alter ist ihr die Bildungspolitik besonders wichtig. Ihrer Überzeugung nach gibt es gute Bildung aber nicht mit einem gegliederten Schulsystem. Sie wolle mehr Gemeinschaftsschulen, „in denen Kinder nicht stupide einen Stundenplan abarbeiten müssen.“ Buschlüter studiert Germanistik und Biologie auf Lehramt, sie will später keinen Frontalunterricht geben, sondern ihre Schüler in Projekten lernen lassen.

Auch ihr Entschluss fiel, nachdem sie die Parteiprogramme nebeneinander gelegt und verglichen hatte. Den Ausschlag für die Grünen gaben deren Grundideale, „die Offenheit gegenüber dem Anderssein“, sagt sie, „der Schwerpunkt auf Natur und Umwelt“.

Aber warum überhaupt eine Partei? Die Bandbreite der Möglichkeiten, politisch zu partizipieren, wächst. NGOs, Verbände, Bürgerbeteiligung, Flashmobs, Onlinepetitionen, ein kurzes politisches Statement auf Facebook. Das ist doch viel direkter. Effizienter. Schneller. „Finde ich nicht“, sagt Buschlüter. „Mir ging es irgendwann auf den Keks, dass sich Leute darüber beschweren, dass in der Politik alles so schlecht laufe. Beschweren kann ich mich nur, wenn ich mich auch selbst politisch in einer Partei engagiere.“

Das tun immer weniger. Der Eintritt in eine Partei ist unter jungen Menschen mittlerweile genauso exotisch geworden wie das Engagement in der Kirche. Wenn aber der Demokratie zunehmend der Nachwuchs fehlt: Können wir dann noch an Parteien glauben?

Ja, sagen Politologen einstimmig. Denn die Mitgliederzahlen sinken auch deshalb so drastisch, weil in den siebziger und achtziger Jahren überdurchschnittlich viele Deutsche in eine Partei eintraten. In Zeiten, in denen sich das Land fast flächendeckend politisierte, in denen es um die großen Fragen ging, um Atomgefahr, RAF-Terror und Kalten Krieg.

Deutschland stehe im europäischen Vergleich, mit Frankreich und Großbritannien etwa, noch sehr gut da. 2,3 Prozent aller wahlberechtigten Deutschen waren 2012 Mitglied einer Partei. Und nur 1,85 Prozent aller wahlberechtigten Franzosen und 1,21 Prozent der wahlberechtigten Briten.

Politikinteresse: In den 1970er und 1980er Jahren traten überdurchschnittlich viele Deutsche in eine Partei ein. Es ging um die großen Fragen: RAF-Terror, Atomkraft, Kalter Krieg. Laut der Shell-Jugendstudie bezeichneten sich Mitte der achtziger Jahre noch gut die Hälfte der Jugendlichen als politisch interessiert, im Jahr 2002 waren es nur noch 34 Prozent der Jugendlichen, 2010 dann – immerhin – 40 Prozent.

Politikverdrossenheit: Die renommierte Shell-Jugendstudie gibt deutlich Auskunft: Das Vertrauen in politische Parteien und die Bundesregierung ist niedrig: 2010 wurde etwa die Polizei auf einer Skala von 1 (sehr wenig Vertrauen) bis 5 (sehr viel Vertrauen) mit 3,5 hoch bewertet, Bundesregierung und Parteien nur mit 2,8 und 2,5. Politikverdrossenheit sei für Jugendliche „typisch“.

Jasper Schwenzow, Mitgliedsnummer 5204-0-19668, ist erst wenige Tage in einer Partei, als er sich eines Abends auf den Weg von seiner Studenten-WG ins Stadtzentrum von Cottbus macht, zu dem Gebäudeklotz mit den vielen Glasfenstern, auf denen in knalligem Rot drei Buchstaben stehen: C – D – U. Es ist Mitte März, die Straßen liegen noch voller Schnee. Schwenzow geht zügig, er ist ein zügiger Typ.

Stammtisch der Jungen Union Cottbus, im Wahlkreis des Landtagsabgeordneten umkreisen schon einige junge Männer in Jeans und Hemden die Tische. Auf der Tagesordnung steht an Punkt 1 „Hallo“ und an Punkt 3 „Land & Bund“. Es geht um Kommunales. EEG-Umlage, Maisanbau, die Zukunft des Braunkohletagebaus.

Warum tritt ein junger Mann wie Jasper Schwenzow, 21 Jahre alt, Student des Wirtschaftsingenieurwesens, in eine Partei wie die CDU ein?

Die knappe Antwort heißt: wegen seiner Volksinitiative.

„Da ist mir Politik zum ersten Mal richtig unangenehm aufgefallen“, sagt er. „Vieles tangiert einen ja sonst überhaupt nicht.“

Jasper Schwenzow hatte sich für die Uni Cottbus entschieden, bei der Einführung sprach der Präsident einer Exzellenzinitiative. Aber schon nach wenigen Monaten merkte Schwenzow, dass sich die Dinge ganz anders entwickelten. Seine Uni sollte Fachhochschule werden, Schwenzow wollte nicht Fachhochschulabsolvent sein und sammelte Unterschriften. Es wurden so viele, dass sich ein Ausschuss des Landtags damit befassen musste.

Der Ausschuss, dominiert von der SPD, wies sie ab. Jasper Schwenzow startete mit der Jungen Union und den Jusos das Volksbegehren „Hochschulen erhalten“. Im Frühsommer stand er mit einer Kommilitonin vor einer Fernsehkamera, Lausitz TV, und erklärte seine Forderungen.

„Gut“, sagt Schwenzow, er hat trainierte Oberarme und viele Judo-Medaillen überm Bett, „der eine begeistert sich für Autos, der andere für Politik.“ Er überlegt. Eine Partei, sagt er, sei keine Firma. „Der finanzielle Antrieb steht nicht an erster Stelle.“ Was dann? „Viele haben wohl so einen Hang, die stehen gern in der Öffentlichkeit. Tue ich selber auch.“

Er fing früh an. Europa AG, Praktikum bei einem Abgeordneten, Jugendparlament. Er diskutierte gern. Als er damals im Bundestag war, fühlte sich das gut an. Die mächtigen Betongebäude. Das Zentrum Deutschlands.

„Ich würde schon sagen, dass ich konservativ bin.“ Kaya Dreesbeimdiek, 17, ist CSU-Mitglied. Berufspolitikerin will sie nicht werden Foto: Juliane Eirich

Christian Torenz, 26, ist Mitglied der Linkspartei. Er kämpft gegen Rassismus im Fußball Foto: Emilia Smechowski

Am 12.12.12 wollte Christina Groß, 21, aus Bochum etwas Wichtiges machen – und trat bei der SPD ein Foto: Andreas Wyputta

Kämpfte für seine Uni in Cottbus, organisierte ein Volksbegehren und ist jetzt in der CDU: Jasper Schwenzow, 21 Foto: Juliane Eirich

Helm auf und mit dem Rad zum Kräutergarten. Wahlkampf 2013 bei den Grünen. Ines Buschlüter, 23, aus Stuttgart macht mit Foto: Martin Storz

„Man würde mich wahrscheinlich zum wirtschaftsliberalen Fügel zählen“, sagt Jasper Schwenzow. Wobei er auch dafür sei, dass das Soziale nicht vergessen wird.

Seine WG veranstaltet heute Abend eine Abschiedsparty, Schwenzow geht für ein Semester nach Istanbul. Vorher klappt er noch schnell seinen flachen Laptop auf. „Team Deutschland“, die Wahlkampfseite der CDU. Zwei Hände, gespreizt zu einem Dreieck, das Symbol für Angela Merkel.

Jasper Schwenzow schreibt eine Mail: „Mein Name ist Jasper Schwenzow. Ich studiere an der BTU in Cottbus und bin seit diesem Jahr Mitglied in der CDU. Ich wollte euch mal fragen, ob es einen Starttermin für den Wahlkampf gibt und was so die ersten Aktionen sind, die umgesetzt werden können. Lieben Gruß aus der Lausitz. Jasper Schwenzow.“ Er klickt auf Senden.

Heute, sechs Wochen später, ist das CDU-Mitglied Jasper Schwenzow in Istanbul. „Ungünstige Zeit für ’ne Wahl“, sagt er.

Ines Buschlüter von den Grünen steht kurz vor ihrem Staatsexamen als Lehrerin. Nebenbei organisiert sie eine Kneipentour mit dem Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir.

Die FDP-Frau Sarah Lemke konnte am Wahlkampf nicht teilnehmen – der Rücken. Das Wahlergebnis allein, sagt sie, sei auch gar nicht entscheidend.

Kaya Dreesbeimdiek, CSU, war vergangenen Dienstag beim Wahlkampfauftritt der Bundeskanzlerin in Dachau. Die größte Attraktion: sie mit einigen JU-Kollegen auf einem Foto mit Merkel.

Christian Torenz war Mitte August für die Linkspartei auf der Berliner Hanfparade unterwegs, er verteilte Kondome und „free hugs“ – gekifft hat er nicht, sagt er.

Die Genossin Christina Groß hat dann doch keine Plakate geklebt. Aber sie will sich noch an einen Infostand stellen. Den Parteislogan „Das Wir entscheidet“ findet sie richtig gut.

Esther Geisslinger, 45, ist Schleswig-Holstein-Korrespondentin der taz

Johannes Gernert, 33, ist sonntaz-Redakteur ■ Marlene Halser, 36, ist Bayern-Korrespondentin der taz ■ Nadine Michel, 31, ist taz-Korrespondentin in Baden-Württemberg ■ Emilia Smechowski, 30, ist sonntaz-Redakteurin ■ Andreas Wyputta, 44, ist taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen