Der Look vom Schlesischen Tor

Die Vergangenheit bleibt und wird neu überschrieben: Wendel ist ein Clubcafé für experimentelle Musik und Grafik, selbst noch unter den Füßen des ausgehlustigen Publikums rund um den U-Bahnhof Schlesisches Tor. Ständige Veränderung ist Programm

VON JAN DIMOG TANJUAQUIO

Hier darf man Kunst ungestraft mit den Füßen treten. Auf dem Fußboden läuft man einfach darüber, an den Wänden wird sie übermalt und übersprüht – immer wenn ein neues Projekt ansteht. Das Anfang Januar eröffnete, von Martin Reimann und Mandy Müller betriebene Wendel ist Café und Showroom für audiovisuelle Kunstprojekte. Der vollständige Name lautet ein bisschen verwirrend: „Clubcafé für gegenwärtige Musik und Grafik die von da wo sie einmal ist nicht wieder weggeht“.

Rund um den U-Bahnhof Schlesisches Tor, dem Hot Spot zwischen Kreuzberg, Friedrichshain und Treptow, sind in den letzten Jahren viele Bars und Cafés mit künstlerischem Anspruch entstanden. Das denkmalgeschützte Industriegebäude, in das jetzt das Wendel eingezogen ist, blieb davon lange unberührt. Nachdem Müller und Reimann zwei harte Jahre Renovierungsarbeit in die ehemaligen Produktionsräume des Spiralfeder-Fabrikanten Max Borchert gesteckt haben, ist aber nun auch das Erdgeschoss des 1909 erbauten Borchert-Hauses mitten im Leben angekommen.

Tradition verpflichtet. Das Logo der neuen Location ist einer Spirale nachempfunden, am Eingang steht ein Umkleidespind, daneben ist eine Spindelpresse aufgebaut. Die Geschichte der Spiralfedernproduktion ist nicht wegrenoviert, sondern in den neuen Betrieb integriert worden. „Es ist uns wichtig, die in fast 100 Jahren Produktion entstandene Atmosphäre im Café weiterzuführen“, sagt Reimann.

In dem großen Raum sorgen ein passgenau aus Betonplatten gefügter Tresen und schwere Holzschränke für eine behaglich-kernige Kantinen-Atmosphäre. Im gastronomischen Angebot sind vor allem Bioprodukte. In dieser Umgebung tummelt sich der Schlesisches-Tor-Look: junges, internationales Publikum mit einem Faible für Käppis, Schlümpfe und lässige Outfit-Mixturen – gemütliches Hipstertum, schmucke Luschigkeit, ehrliche Zufälligkeiten.

Für Reimann – 43 Jahre, gelernter Goldschmied und Mediengestalter – soll jedoch keine Beliebigkeit herrschen: „Zu einem lebendigen Treffpunkt gehört eine spannende Mischung an Leuten. Wendel soll als Plattform für Live-Acts, Musiker und Grafiker offen sein. Gegenwärtige neue Musikrichtungen treffen auf experimentelle Kunstformen.“ Dabei gehört die Übermalung alter Ausstellungen zum Wendel-Prinzip.

Als Kunstraum erlebt man das Café schon mit dem ersten Schritt. Überall auf dem Boden sind Tags und Graffiti. „Das ist der Fingerabdruck eines bestimmten Zeitpunkts der Berliner Sprüherszene“, sagt Reimann. Die aktuelle Ausstellung heißt „Rhythmus entsteht durch Veränderung – Zahlenkomposition für Tags und Musik im Internet“. Auf eine Seitenwand hat Reimann selbst ein großflächiges Bild gemalt: schwarze und weiße Punkte in erratischem Wechsel, ein Sinnbild fürs binäre Zahlensystem der digitalen Welt. Das Bild hat Reimann mit seiner Ein-Mann-Soundband „Rauschpartikel“ dann in eine tönende Installation umgesetzt. Bild und Musik zusammen ergeben die Vorlage für das, was ansonsten schon passiert ist und noch passieren soll: Kontinuierlich entstehen neue Skizzen, Tags und Graffiti befreundeter Street Artists – so lange, „bis die Wand schwarz ist“.

Der gebürtige Siegener ist ein Tüftler, der weiß, dass ihm manche Gedanken zu kompliziert geraten. Die trickreiche Wendel-Homepage ist ein Beispiel dafür. Wenn man erzählt, welche Daten und Details man der Seite entlockt hat, sagt er beinah anerkennend: „Die Homepage ist nicht einfach zu durchschauen.“ Sollte sich Reimann mal vertüfteln, ist ja noch seine Geschäftspartnerin da. Mandy Müller sorgt für die Erdung: „Martin macht den Musik- und Grafikbereich, ich sehe zu, dass alles läuft.“ Die 33-jährige, gelernte Steuerassistentin aus Chemnitz hat als Promoterin im Radio und lange Zeit in der Gastronomie gearbeitet, bevor sie und Reimann sich auf einen gemeinsamen Laden festlegten. Bisher eine richtige Entscheidung: „Die Reaktionen sind überwältigend!“, so Müller. Mit dem Red-&-Green-Espresso gibt es im Café Wendel auch definitiv den besten Kaffee in der Gegend.

Café Wendel, Schlesische Str. 42, tgl. 12–3 Uhr, Infos: www.nstp.de25. 3., 22 Uhr: Konzert des „Instant-Composers“ Sam Hal (Gitarren, Geräusche und Neue Musik)