„Einfach mal losgetobt“

In Paris demonstrieren Gymnasiasten – in Berlin ist es ruhig. Warum? Weil Franzosen Straßenprotest mit republikanischem Pathos verbinden, das Deutschen fremd ist

taz: Herr Koch, warum demonstrieren in Frankreich so viele gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes für Jüngere?

Claus Koch: Die Lockerung des Kündigungsschutzes war eine hilflose Antwort der Regierung auf die Gewalt in den Vorstädten im Herbst. Damit sollte die Jugendarbeitslosigkeit bei Immigranten von 40 Prozent gesenkt werden. Das hat Premier de Villepin gegen den Rat aller Experten durchgesetzt. Denn jeder weiß, dass es für viele junge Immigranten sowieso keine Jobs gibt – mit oder ohne Kündigungsschutz.

Aber jetzt demonstrieren nicht arbeitslose Migranten, sondern Gymnasiasten. Warum?

Wohl aus Lust am Protest. Das ist eine Parallele zum Pariser Mai 1968. Und sie haben reaktionsschnell und mit sicherem Gespür die schwache Stelle der Regierung getroffen. De Villepin hat das neue Gesetz ja einfach von oben dekretiert. Die Jugendlichen haben darin zu Recht ein Zeichen für die Verunsicherung der späten Chirac-Zeit gesehen – und einfach mal losgetobt.

Gehen die Gymnasiasten nicht für ihre eigenen Interessen auf die Straße?

Mittelbar. Es gibt die Furcht, dass die sicheren Jobs auch für die Mittelklasse schrumpfen.

In Deutschland kann man sich ähnliche Proteste kaum vorstellen. Warum nicht?

Ein Unterschied ist, dass es in Frankreich mehr Akademiker gibt. Viele machen Abitur, schaffen es nicht auf die Elite-Unis, studieren an normalen Unis, die allerdings strenge Prüfungen haben. Mit 24 verlassen sie die Universitäten und viele leben dann in prekären Verhältnissen. Das ist ein mobilisierbares Protest-Potenzial, dass es in Deutschland so nicht gibt.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften bei den Protesten?

Kaum eine. Bei den Demos durften Gewerkschafter die Ordner stellen. Da waren sie immerhin mal wieder in der Öffentlichkeit repräsentiert. In Deutschland streiken Gewerkschaften mit Erfolg für konkrete Ziele. Dafür sind die französischen Gewerkschaften zu schwach. Die französischen Arbeiter sind viel weniger organisiert.

Aber hierzulande plant die große Koalition viel tiefere Einschnitte beim Kündigungsschutz. Doch alles bleibt ruhig. Warum?

Die Deutschen mögen den Protest auf der Straße nicht, die Franzosen sehr. Sie können den auch besser inszenieren. Die Fotos von den Demonstrationen in den Zeitungen sehen ja aus wie Gemälde von Delacroix. Die Mädchen mit freien Armen, die auf den Schultern der Jungs sitzen – das sind Gesten, die die Franzosen lieben. Der Jugendprotest ist in Frankreich ein Mythos der Individualität. Und er ist anschlussfähig an das republikanische Pathos der Franzosen. Das kennen die Deutschen nicht.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE