Blitze im Kopf

Migräne ist eine Krankheit, vor der viele Mediziner kapitulieren. Obwohl die Betroffenen Qualen leiden, wird ihr Zustand oft belächelt. Eine Kieler Klinik zeigt neue Wege in der Behandlung auf

von Eva Weikert

Andreas Schmidt* ist 26 Jahre alt. Zwischen seinem 16. und seinem 24. Lebensjahr hat er keinen Tag ohne Kopfschmerzen erlebt. Manchmal sei der Schmerz so angewachsen, „dass ich aus dem Fenster springen wollte“, sagt er. Schon morgens habe er fünf Tabletten auf einmal genommen – auch morphiumhaltige. Keinen Tag habe er im Job gefehlt, trotz der Hölle im Kopf stets funktioniert. Bis eines Tages „gar nichts mehr ging“: Schmidt konnte nicht mehr aufstehen, jede Bewegung eine Explosion im Kopf. Ein Notarzt kam, Schmidt wurde in eine Spezialklinik eingewiesen. Am zweiten Tag, erinnert er sich, war der Schmerz „wie ausgeschaltet. Ein Riesenerlebnis.“

Der Schalter ist noch umgelegt. Zwei Jahre liegt der Aufenthalt in der Schmerzklinik Kiel (www.schmerzklinik.de) zurück und Schmidt „geht es sehr gut“, wie er sagt. Höchstens zweimal pro Monat habe er „leichte Kopfschmerzen“.

Verhalten ändern

Ein Wundermittel hat ihm in Kiel niemand verabreicht. Geholfen hat ihm eine Kombination aus Tablettenentzug und Neumedikamentierung mit Psychotherapie und Entspannungsprogramm. Die Spezialklinik setzt bei schwerer Migräne und Dauerkopfschmerz auf ein neurologisch-verhaltensmedizinisches Behandlungskonzept. Chefarzt Hartmut Göbel erklärt: „Es geht darum, die richtigen Medikamente für einen Patienten zu finden und ihn zu bewegen, sein Verhalten zu ändern.“

Göbel behandelt Menschen, die ihren Alltag aufgrund massiver Kopfschmerzen – oft begleitet von Seh- und Sprachstörungen, Übelkeit und sogar Bewusstlosigkeit – nicht mehr bewältigen können und an zahlreichen Begleitproblemen wie Erschöpfung und Depression, aber auch Blutdruck- und Magenproblemen leiden. Göbel: „Migräne ist eine Krankheit und kein Symptom von irgendetwas anderem.“

Doch das wissen viele Betroffene nicht. Die 42-jährige Petra Fiedler*, die seit ihrem 13. Lebensjahr unter Migräneattacken leidet, hat einen Wunderheiler mit einer Rute durch ihr Haus geschickt, Möbel gerückt, eine Bodenprobe im Garten nehmen lassen, sich alles Amalgam aus den Zähnen entfernen lassen und neben der Schulmedizin Akupunktur und die Homöopathie ausprobiert – vergeblich.

Erst die Kieler halfen ihr. Über einen Zeitraum von 15 Jahren hatte sie etwa alle zwei Tage Migräne bekommen, angekündigt durch die so genannte Aura: Zickzacklinien im Gesichtsfeld, Schwindel und Lärmempfindlichkeit. In Hochzeiten nahm die Hausfrau und Mutter bis zu 30 Schmerztabletten am Tag gegen das Hämmern im Kopf, das von Erbrechen begleitet war. Heute, zwei Jahre nach dem Klinikaufenthalt, kommen die Anfälle noch etwa einmal im Monat.

Grundlage für die Attacken ist Mediziner Göbel zufolge eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems für plötzlich auftretende äußere und innere Reize. Die besonders intensive und schnelle Reizverarbeitung sei angeboren. „Dadurch wird bei starken Reizveränderungen eine übermäßige Freisetzung von Nervenübertragungsstoffen im Gehrin ausgelöst“, so Göbel: „Folge ist eine Entzündung an Blutgefäßen des Gehirns.“ Die bewirkt den Schmerz.

Eigentlich könnten migräneanfällige Menschen stolz sein, denn ihr Gehirn arbeitet besonders aktiv. Migränepatienten seien oft sehr leistungsfähige Menschen, so Göbel, die die Belastung nicht wahrnehmen und ihre Grenzen nicht einhalten.

Der Ulmer Andreas Schmidt leitete mit 19 Jahren einen Supermarkt: „Ich habe permanent funktioniert“, sagt er. Durch den Dauerschmerz sei er nach der Arbeit „völlig apathisch“ gewesen. Freizeitaktivitäten habe es keine gegeben. Irgendwann habe er Probleme mit seiner Freundin bekommen: „Ich beschäftigte mich nur mit dem Schmerz.“

Die Fachleute unterscheiden mehr als 251 Kopfschmerzformen. Die Kieler Spezialklinik wurde 1998 als Modellprojekt der AOK Schleswig-Holstein gegründet – um längerfristig Geld zu sparen. Denn chronische Schmerzkrankheiten verursachen hohe Kosten. Ein Gutachten der Gesellschaft für Systemberatung im Gesundheitswesen von 2002 bescheinigt den Kielern Effizienz. Das körperliche, psychische und soziale Befinden der erfassten Patienten habe sich wesentlich verbessert, und die Besserung habe über den Beobachtungszeitraum von zwei Jahren nach der Therapie angehalten.

Wie ein Sonnenbrand

Schmidt war vier Wochen in Kiel. Zuerst musste er eine „Kopfschmerzmittelpause“ machen: Durch die unkontrollierte Einnahme von Migränemitteln erhöht sich die Attackenfrequenz, es kommt zu einer Art Abhängigkeit. Der Entzug kann bis zu einer Woche dauern. Abgemildert wurde er bei Schmidt durch eine Infusion aus Cortison und Anti-Depressiva. Parallel dazu arbeiteten Therapeuten mit ihm an einem Verhaltensprogramm dazu, sich der bedrohlichen Reizüberflutung nicht mehr auszuliefern. Ergänzend wurde die progressive Muskelentspannung geübt. Physiotherapie sollte Bewegungsfehler beheben. Im Migräneseminar sprach ein Arzt über Auslösefaktoren und Strategien, ihnen auszuweichen. Auch Ernährungs- und Schlafgewohnheiten gehören dazu. In der Psychotherapie wurde nach subtileren Verhaltensmustern gesucht, die Migräneanfälle begünstigen.

Göbel sagt: „Der Patient soll Experte für sein eigenes Wohlbefinden werden.“ Im Grunde sei Migräne wie Sonnenbrand: „Sie können ihn durch Wissen und Verhalten vermeiden.“

*Name geändert