Scharfe Kritik aus der Ukraine

Buchmessern (3): Zum Auftakt geißelt Juri Andruchowytsch die EU-Abschottungspolitik

In der Regel sind Eröffnungszeremonien von Buchmessen eine ermüdende Angelegenheit. Es wird geredet, was immer geredet wird, es werden die Songs gespielt, die immer gespielt werden, nur die Samples sind andere, es werden die Häppchen und Biere danach umso leckerer, je länger sich die Zeremonie hinzieht, und hin und wieder gibt es einen kleinen Skandal, der erst dann bemerkt wird, wenn die Feier längst zu Ende ist.

Am Mittwochabend im Leipziger Gewandhaus gab es eine Ausnahme von dieser Regel. Da konnte man später den Menschen, die nicht dabei waren und sich pflichtgemäß erkundigten, wie es denn war (in der Erwartung, dass die Antwort „Na ja, wie immer“ lauten würde), sagen: Es war gut, es war aufschlussreich, es hat Spaß gemacht, es hat gar aufgerüttelt. Das lag daran, dass Ingo Schulze der ideale Laudator für Juri Andruchowytsch war, der an diesem Abend mit dem „Buchpreis für die Europäische Verständigung“ ausgezeichnet wurde; und dass beide Autoren, der eine locker-entspannt, der andere aufgeregt-entschlossen, sich im Kraftfeld von Literatur und Politk aufs Beste ergänzten. Schulze las Auszüge aus dem Notizbuch einer Reise im März 2005 durch die Städte Kiew, Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Czernowitz und Umgebung, was erst mal so gar nicht nach einer Laudatio klingt, aber umso mehr Freiheiten gewährte. So gelang es Schulze, sich der Situation in der Ukraine anzunähern, in die Literatur von Juri Andruchowytsch einzutauchen und dem Ganzen gleichzeitig noch Sprengsel der eigenen Poetologie beizumengen.

Das klang so: „Wir sehen hinaus in den verfrühten Frühling und plaudern über alles mögliche, zum Beispiel darüber, daß für uns beide Hemingways ‚Paris – ein Fest fürs Leben‘ das Heroin unserer Schriftstellerträume war, daß wir beide den Teufel in einem Chrysler fahren lassen, gern über die Meister des Wortes schreiben, uns sieben Jahre Zeit für das letzte Buch ließen und die Provinz unser bevorzugtes literarisches Muster ist.“ Oder so: „Denn Literatur, die heute diesen Namen verdient, zieht ihre Bedeutung ja nicht daraus, daß sie die am meisten entwickelten, modernen, avancierten Länder und Metropolen in sich aufsaugt und beschreibt, sondern inwieweit sie in der Lage ist, sich zu öffnen für die ganze Welt und Verbindungen herzustellen.“

Nach dieser genauso unterhaltsamen wie literarischen Würdigung hatte Andruchowytsch selbst gewissermaßen den Rücken frei, um eine zornige und rein politische Dankesrede zu halten; um dafür zu danken, „zum ersten Mal mit all der bitteren Offenheit zu Ihnen sprechen zu können“.

Es ging in der Rede wie erwartet um Europa; „Europa, meine Neurosen“ war sie übertitelt, man könnte auch sagen: „Europa, meine Obsession“. Um das Europa, dass der Ukraine den Einlass verwehrt, ihr keine europäische Perspektive bietet, und alle ihre Bürger durch eine restriktive Visapolitik wie „Verbrecher“ und „Nutten“ behandelt: „Die Europäische Union wählt einen offen bushistischen Weg des Selbstschutzes: sie fordert Fingerabdrücke. Ja, Fingerabdrücke – wie es sich für die Verbrecher und Nutten dieser Welt ja auch gehört.“

Als Andruchowytsch geendet hatte, gab es Beifall, zuerst den üblichen, dann immer mehr, am Ende waren es Standing Ovations. Dieser Beifall hatte was von Selbstgeißelung, von Scham, von „Schande über uns“ – doch ob er über den Abend hinaus trägt, das muss wohl getrost bezweifelt werden. GERRIT BARTELS