Zurückschlagen ist nicht alles

Vor 30 Jahren entstand in Berlin der erste Selbstverteidigungsverein für Frauen. Ein Schwerpunkt heute ist Mädchentraining. Hier lernen die Kleinen, gefährliche Situationen zu erkennen, und die Älteren, sich gegen dumme Anmache zu wehren

VON JUTTA BLUME

Konzentriert machen die Frauen große Schritte nach vorne und schlagen dabei mit der Faust in die Luft. Die Energie kommt aus der gesamten Bewegung. Später zeigt ihnen die Trainerin Petra Westerhove, wie sie sich mit einer einfachen Drehung aus einem Würgegriff befreien können. Der Jiu-Jitsu-Kurs findet in einer Fabriketage in den Vereinsräumen von „Selbstverteidigung für Frauen e. V.“ (SVF e.V.) statt. Jiu Jitsu ist eine abgewandelte Form des Ju Jutsu, die von Vereinsgründerin Martha Schedewy speziell für Selbstverteidigungszwecke entwickelt wurde. Es ist nur einer der Stile, die der SVF lehrt.

Seit 30 Jahren hat die Nachfrage nach Kursen nicht nachgelassen, das Angebot sich hingegen vervielfältigt. Heute trainieren etwa 350 Mitfrauen an der Schöneberger Hauptstraße, ein Drittel davon Mädchen. Allerdings ist der SVF mit seinem Angebot speziell für Frauen längst nicht mehr alleine. So bietet das Frauenzentrum Schokoladenfabrik Selbstverteidigungskurse für Frauen an. Auch beim Frauen/Lesben-Sportverein Seitenwechsel e. V. stehen Wendo und Kickboxen auf dem Programm.

Beim Reinickendorfer Verein „Frauensport und Kampfkunst“ trainieren behinderte und nicht behinderte Frauen und Mädchen zusammen. Die Kurse sind nicht mehr überlaufen wie noch vor zehn Jahren, dafür bleiben die Frauen heute länger im Verein. „Inzwischen bietet ja jede Sportschule Selbstverteidigung für Frauen an“, erklärt die Trainerin Lydia Lang. Wie SVF e. V. haben sie sich bewusst entschieden, einen reinen Frauenverein zu betreiben. So werde auch Frauen mit Gewalterfahrungen der Zugang erleichtert.

Die Idee zu den ersten Frauenselbstverteidigungsvereinen entstand in der feministischen Bewegung. Frauen ärgerten sich über ihre Angst in der Öffentlichkeit, was sich damals in Slogans wie „Wir erobern uns die Nacht zurück“ äußerte. Erste Trainings fanden 1975 im Lesbischen Aktionszentrum mit der Karate-Trainerin Schedewy statt. Der Betonboden wurde mit alten Matratzen ausgelegt. Schon bald reichten die Räume nicht mehr, und so kam es im Mai 1976 zur Gründung des SVF. „Es war jahrelang schwer, überhaupt einen Platz in den Kursen zu bekommen“, erzählt Petra Westerhove. Sie ist seit 1988 im Verein, seit 1992 arbeitet sie als Übungsleiterin. „Die Trainingstermine fingen schon um 14 Uhr an, damals hatten die Studentinnen noch Zeit und mussten ihr Studium nicht so schnell wie möglich durchziehen.“ Heute ist die älteste Vereinsfrau 70, die jüngste fünf Jahre alt. Das Selbstverständnis des Vereins sei das gleiche geblieben wie vor 30 Jahren, meint Vorstandsfrau Melanie Sewing. Die Hauptmotivation sei heute, mit anderen Frauen zu trainieren und Spaß zu haben. „Manche Frauen haben auch wieder mehr Angst auf der Straße“, glaubt Westerhove. Andere kommen, um sich einfach „auszupowern“.

Selbstverteidigung heißt nicht, um jeden Preis zurückzuschlagen. „Wenn wir mit mehr Selbstbewusstsein auf die Straße gehen, passiert auch weniger“, meint Sewing. Für Westerhove ist es wichtig, dass die Frauen lernen, eine Bedrohung besser einzuschätzen. Wenn sie im Training lehrt, wie sich ein Messerangriff abwehren lässt, fragt sie zugleich, ob der Angriff mit verbalen Mitteln hätte verhindert werden können. In manchen, weniger brenzligen Situationen könne auch eine überraschende Bemerkung helfen.

Ein wichtiger Schwerpunkt der meisten Vereine ist heute das Mädchentraining. „Gerade Mädchen lernen völlig anders und gehen in gemischten Schulen oft unter“, berichtet Lang von Frauensport und Kampfkunst. In den Kursen des SVF spielt Gewaltprävention eine wichtige Rolle. Die Mädchen lernen, bedrohliche Situationen wahrzunehmen und sich dagegen zu wehren. Dazu gehört vor allem ein positives Körper- und Selbstwertgefühl. Je nach Alter der Mädchen müssen die Trainerinnen gefährliche Situationen unterschiedlich thematisieren – für Jüngere meist spielerisch. Teenager wollen hingegen oft selbst wissen, wie sie sich gegen blöde Anmache wehren können.

Trotz des vielfältigen Angebots in der Stadt kommt es noch immer zu Neugründungen, wie die Kampfkunstschule „Schöner Frühling“. Christine Nossol eröffnete sie vor eineinhalb Jahren. Zurzeit unterrichtet die Trainerin 60 Frauen und Mädchen in Wing Tsun. „Schöner Frühling“ – so die deutsche Übersetzung von Wing Tsun – ermöglicht es speziell, sich gegen stärkere Gegner zu behaupten. Die Chinesin Ng Mui entwickelt die Technik vor rund 300 Jahren – damals wurden Mädchen noch die Füße gebunden.

Weitere Informationen zu Selbsthilfe für Frauen: www.svf-berlin.de; www.frauensport-kampfkunst.de; www.schokosport.de; www.seitenwechsel-berlin.de; www.schoener-fruehling.com