Die Ohnmacht der Vielen

STREIKS Wie protestiert man gegen drastische und ungerechte Sparmaßnahmen, wenn bekannt ist, dass der Staat pleite ist? Griechenlands Gewerkschaften stehen vor einem Dilemma

Einzelne Berufsgruppen können derzeit mehr Macht ausüben als die breite Protestbewegung

VON NIELS KADRITZKE

Die Proteste in Griechenland gehen weiter: Diese Woche streikten die Krankenhausärzte und das Personal der Elektrizitätsgesellschaft. Der nächste Generalstreik wird nach den Osterferien kommen.

Der Grund dafür ist das mittlerweile dritte Sparpaket, das den Griechen die härtesten Maßnahmen seit 60 Jahren zumutet, und zwar an allen Fronten: höhere Steuern, drastische Gehaltskürzungen, eingefrorene Rentenbezüge. Hinzu kommt eine wachsende Inflation und eine steigende Arbeitslosenquote, die bis 2011 bei 20 Prozent liegen dürfte.

Gegen solche Vorhaben würden die Betroffenen überall auf die Straßen gehen. In Griechenland stellt sich eher die Frage, warum es nicht mehr sind. Die 60.000 Demonstranten in der vorvergangenen Woche in Athen sind für einen „Generalstreik“ keine imposante Zahl. Doch über den Protesten hängt die Frage: Was bewirkt ein Generalstreik gegen den drohenden Staatsbankrott?

Den Ernst der Lage haben fast alle Griechen begriffen. Über 80 Prozent der Bevölkerung sehen ein, dass die Regierung zum Sparen gezwungen ist. Grund für das gewaltige Staatsdefizit: Die Ausgaben für den aufgeblähten öffentlichen Dienst werden nicht annähernd durch staatlichen Einnahmen gedeckt, weil die ganz Reichen, aber auch besser verdienende Freiberufler sich ihren Steuerpflichten bislang entziehen.

Kurz: Die Kassen sind leer. An diesem Faktum ist schon die erste Streikwelle im Januar gescheitert, als die griechischen Bauern drei Wochen lang die wichtigsten Straßen des Landes und den Grenzübergang nach Bulgarien blockierten. Die nun protestierenden Gewerkschaften werden einen längeren Atem haben. Aber auch die meisten Streikenden wissen, dass die Regierung, um selbst den zusammengestrichenen Haushalt für 2010 zu finanzieren, auf den internationalen Finanzmärkten 55 Milliarden Euro auftreiben muss, davon 20 Milliarden in den nächsten sechs Wochen. Und sie können täglich in der Zeitung lesen, dass ein Scheitern des Sparprogramms die Aufnahme dieser Kredite gefährden oder stark verteuern würde, mit der Folge weiterer Einschnitte.

„Ungerechte“ Belastung

„Wir zahlen nicht“, steht auf den weißen Mützen vieler Streikender. Und das, obwohl die meisten von ihnen sogar bereit wären, ihren Teil zu zahlen – wenn die Lasten fair verteilt wären. Doch das Sparprogramm der Regierung friert selbst die Mindestrenten von 500 Euro ein. Und erhöhte Mehrwertsteuern wie lineare Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst belasten niedrige Einkommen relativ gerechnet stärker als die hohen.

Dass ihr Programm „ungerecht“ ist, gibt die Regierung mit entwaffnender Offenheit zu. Aber nur so seien die nötigen Milliarden noch in diesem Jahr einzusparen, da Strukturreformen und der Kampf gegen Steuerhinterzieher erst auf längere Sicht Wirkung zeigten. So lange aber reicht die Geduld „der Märkte“ nicht. Auch das wissen die meisten Demonstranten. Deshalb verfluchen sie die Spekulanten, die wiederum hoffen, dass die griechische Staatsanleihen eine gute Rendite abwerfen. Dieser Teufelskreis erklärt, warum nicht Millionen Griechen demonstrieren und warum die Stimmung der Streikenden militant und fatalistisch zugleich ist.

Allein die spätstalinistische KKE-Partei, deren Gewerkschaftsflügel PAME bei jedem Generalstreik separate Kundgebungen veranstaltet, behauptet zu wissen, wo das fehlende Geld zu holen wäre: es liege „in den Schatzhöhlen der Plutokratie“, wie KKE-Vorsitzender Aleka Papariga sagt. Also muss man die Banken verstaatlichen.

An dieses Rezept glauben jedoch nicht einmal die KKE-Wähler. Dass die PAME dennoch starken Zulauf hat, liegt auch an der Führung des gewerkschaftlichen Dachverbands GSSE, der von Mitgliedern der Regierungspartei Pasok kontrolliert wird. Ihr Vorsitzender Iannis Panajopoulos kann kaum vermitteln, dass ihm gewerkschaftliche Ziele wichtiger sind als das Überleben der Regierung von Papandreou: Als er bei den letzten Generalstreiks sprach, harrten vor der Rednertribüne nur ein paar hundert Genossen aus, die Mehrheit zog bereits mit radikalen Sprechchören durch die Straßen.

Dass ihr Programm „ungerecht“ ist, gibt die Regierung mit entwaffnender Offenheit zu

Dass Griechenlands Gewerkschaften von Parteien kontrolliert werden, hat eine lange Tradition. Gravierender ist ein zweites Problem: Viele Beschäftigte des Privatsektors lehnen das Aktionsbündnis der GSSE mit der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes ab. Während beim letzten Generalstreik der öffentliche Dienst fast geschlossen die Arbeit niederlegte, ließ die Solidarität in den Betrieben zu wünschen übrig. Viele privatwirtschaftlich Beschäftigte wollen sich nicht für das einsetzen, was sie als „Privilegien“ der Staatsbediensteten sehen – etwa die Entlohnung nicht geleisteter „Überstunden“ oder die legendäre Zulage für „pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz“. Aber auch diese Wahrnehmung ist ungerecht: Die Gehälter im öffentlichen Dienst sind keineswegs hoch. Dass die Personalausgaben fast 60 Prozent der Steuereinnahmen auffressen, liegt vielmehr an der exorbitanten Zahl der Staatsbediensteten.

Dennoch sympathisieren die Griechen immer stärker mit den Streiks der nichtöffentlichen Beschäftigten. Das beunruhigt die Regierung. Aber so lange die Generalstreiks ihren rituellen Charakter behalten, könnten sie Ministerpräsident Giorgos Papandreou sogar willkommen sein. Demonstrieren sie doch den EU-Partnern, dass die griechische Gesellschaft weitere „Belastungen“ schlichtweg nicht mehr aushält.

Gefährlicher sind für die Regierung Aktionen einzelner Gewerkschaften und Berufsgruppen, die sich auf die Staatseinnahmen auswirken. So wie der Streik der Zollangestellten im Februar. Der legte für fünf Tage den griechischen Außenhandel lahm und blockierte die Öleinfuhr, sodass am Ende die Tankstellen ausgetrocknet waren. Auch die Finanzbeamten traten bereits drei Mal in zweitägige Sonderstreiks – sie fühlen sich stark, weil sie wissen, dass das Sparprogramm der Regierung auf höhere Steuereinnahmen angewiesen ist, also auf engagierte und unbestechliche Steuerbeamte.

Mit solchem Kalkül jenseits aller Solidarität können einzelne „strategische“ Berufsgruppen derzeit mehr Macht ausüben als die breite Protestbewegung der Schichten, die von der Krise am härtesten betroffen sind. Die Macht der Wenigen und die Ohnmacht der Vielen – auch darin zeigt sich die gesellschaftliche Misere, die der griechischen Krise zugrunde liegt.