Der Stolz und das Gerede

Zöhre A. kam vor 30 Jahren nach Berlin. Heute freut sie sich über den beruflichen Erfolg ihrer Kinder – und ärgert sich, dass Nachbarn über die unverheiratete Tochter tuscheln

„Wenn ich aus dem Fenster auf den Hermannplatz schaue, ist es wie früher im Dorf. Die freie Sicht, das Getümmel, die Autos. Ich fühle mich dann nie allein“, sagt Zöhre A., und sieht sich im spärlich eingerichteten Wohnzimmer mit der grauen Couchgarnitur um. Die Wohnung ist leerer geworden, seit ihre Kinder ausgezogen sind. Aber sie kommen oft vorbei: Die 43-jährige Tochter, die selbst zwei große Kinder hat, lebt im Stock über ihr, ein Sohn im Hinterhaus, der andere um die Ecke. Nur die Jüngste wohnt etwas weiter weg.

Die 63-jährige Zöhre A. ist eine kleine Frau, die ihre grünen Augen hinter dicken Brillengläsern verbirgt, und die manchmal leise spricht, wenn eine Frage sie zu verunsichern scheint. Dann wieder kann sie sehr witzig werden, wenn ihr eine lustige Begebenheit einfällt. Als sie 1973 nach Berlin kam, war sie schockiert. Die Kreuzberger Ladenwohnung, in die ihr Mann drei Jahre zuvor eingezogen war, glich einer Bauarbeiterbude: Es gab kein fließendes Wasser, keine Küche. Da hatte es die 30-Jährige in ihrem anatolischen Dorf besser gehabt. „Hätte ich nicht große Angst gehabt, Anlass zu Gerüchten zu geben – ich wäre sofort umgekehrt“, sagt sie. Aber dann wäre sicher erzählt worden, ihr Mann habe in Deutschland eine andere gefunden. So blieb das Paar, wie viele „Gastarbeiter“ ihrer Generation, zusammen in Berlin.

Zwar fehlten Zöhre A. anfangs die Kinder, die sie bei Verwandten im Dorf zurückgelassen hatte. Gleichzeitig konnte sie ihrem Mann helfen, in Berlin eine Existenz aufzubauen. Das Projekt Deutschland war erst nur auf ein paar Jahre angelegt. Doch als Anfang der 80er-Jahre die Kinder nachzogen, war klar, dass die Familie hier bleiben würde. So wurde Zöhre A. Kreuzbergerin.

In den vergangenen 30 Jahren ist die Familie mehrmals umgezogen, hat sich aber nur ein paar Straßen weiter nach Neukölln bewegt. Die Zuzugssperre erlaubte es Ausländern damals nicht, in andere Bezirke umzuziehen. Dabei hätte Zöhre A. gerne in Charlottenburg gewohnt, wo sie als Küchenhilfe im Krankenhaus arbeitete. Jetzt will sie nicht mehr woanders wohnen.

„Ich bin halb deutsch, halb türkisch“, sagt sie heute. Seit sie und ihr Mann Rentner sind, verbringen sie mehrere Monate im Jahr in Antalya. Doch in Deutschland fühlt sie sich viel selbstständiger: „In der Türkei muss mich immer jemand zum Arzt begleiten. Die Straßen sind mir fremd. Hier kann ich auch alleine bis ans andere Ende der Stadt fahren.“ Einmal im Jahr gönnen sich die beiden einen Hotelurlaub in der Türkei. „Alles ist schön dort. Aber wir sind uns beide einig, dass ich besser koche als die Köche dort“, sagt sie selbstbewusst.

Sie ist stolz, dass ihre Kinder erfolgreich studiert haben, obwohl sie ihnen dabei nie behilflich sein konnte. Nicht einmal die Elternabende hätten sie und ihr Mann besuchen können, weil sie kaum Deutsch sprachen. Nur an den guten Zeugnissen konnten sie sehen, dass ihre Kinder in der Schule klarkamen.

Dass ihre jüngste Tochter mit 35 noch alleine lebt, ist für Zöhre eigentlich kein Thema: Sie steht schließlich als Lehrerin auf eigenen Beinen. Nur für die Nachbarn ist das offenbar nicht so selbstverständlich: „Warum wohnt das Mädchen alleine?, fragen sich die Leute“, weiß Zöhre A. „Ich habe das über drei Ecken gehört. Sogar sehr enge Freunde von uns denken so“, sagt sie verständnislos. So lange die Tochter unverheiratet ist, bleibt sie in den Augen vieler Nachbarn ein Mädchen. Zöhre A. ärgert sich über diese Engstirnigkeit. Schließlich seien einige der Frauen, die heute über ihre Tochter lästerten, selbst als Gastarbeiterinnen alleine nach Deutschland gekommen. „Außerdem“, erzählt Zöhre aufgeregt weiter, „warum soll ich mir Sorgen um meine Tochter machen? Ich habe selbst viel von ihr gelernt.“

Zum Beispiel die Emanzipation. Heute sei es ihr egal, was die Leute über sie dächten, sagt Zöhre A. So ganz stimmt das aber nicht: Ihr Foto will sie nicht so gerne in der Zeitung sehen. Und auch was die Leute über ihre unverheirateten Kinder denken – auch der älteste Sohn lebt mit Ende Dreißig allein –, ist ihr nicht gleichgültig: „Jedes Mal wenn Bekannte mir stolz erzählen, sie hätten mit Gottes Hilfe ihre Kinder unter die Haube gebracht, ist es, als träfe mich hier ein Stein“, sagt sie und zeigt auf ihr Herz. „Mein Leben ist wunderschön“, meint Zöhre A. beim Abschied an der Tür etwas melancholisch, „aber wenn ich die beiden verheiratet hätte, wäre es perfekt.“ ZONYA DENGI