Höhlenbewohner
: Ende der Eiszeit

Schlechtes Timing in der warmen Stube

Davor hatten sie sie nicht gewarnt. Vor allem anderen schon. Ihre Freundinnen fürchteten um ihre Unabhängigkeit, ein Freund um ihren flachen Bauch. Ihre Mutter bangte schon Monate vor der Geburt um ihr Kind, das ein Kind bekommen sollte. Folsäure und Mutterpass wurden stille, aber hartnäckige Begleiter, Organscreening und CTG neue Vokabeln, die es zu lernen galt. Wildfremde Menschen sprachen sie an und erzählten mahnend, was sie jetzt besser nicht mehr essen und tun solle. In ihrem Zustand! Ihr Vater war entsetzt, dass sie noch Fahrrad fuhr – „ein Schlagloch und dann biste dein Kind aber ganz schnell los!“ Die Ärztin zählte Augen, Ohren, Beine und Arme des Höhlenbewohners auf Vollständigkeit und entließ sie aus den Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig mit den Worten: „Ich kann keine Fehlbildungen erkennen, bisher.“

Das Kind kam. Alles war gut. Nur daran hatten die Bauchverwalter und -zweifler einfach nicht gedacht: es war mitten im tiefsten Berliner Winter. Draußen eine einzige Eiswüste, unwirtliche, bizarr gefrorene Schneelandschaften. Die Minusgrade fesselten Mutter und Kind wochenlang ans Haus. Aus einem Höhlenbewohner wurden zwei. Draußen war es zu kalt für das kleine Wesen und die Wege unpassierbar für den Kinderwagen, drinnen zu öde für „die Mutti“. Warum hatte daran niemand gedacht? Ein Winterkind in der Hauptstadt der dunklen Jahreszeit bekommen, was für eine Idee! Sie hatte Zeit in ihrer warmen Höhle, um über schlechtes Timing nachzudenken.

Als die Vögel lauter sangen und die Tage länger wurden, schmolz endlich der Schnee. Nun fährt sie den Kinderwagen rasant durch den Kiez, über Raketenreste von Silvester und Streukies hinweg. Ihr Kind blinzelt irritiert in die Märzsonne, die schon ein bisschen wärmt. Guckt erstaunt und niest bei jedem kleinen Sonnenstrahl, das Winterkind. MIRIAM JANKE