Kleiner Sisyphos mit großen Problemen

Chinas Regierungschef Wen stellt auf dem Volkskongress ein ehrgeiziges Programm vor: Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen, Ressourcen geschont und der Umweltschutz beachtet werden. Der Sozialismus findet künftig auf dem Land statt

AUS PEKING GEORG BLUME

Wen Jiabao ist ein kleiner Mann, energisch und ein wenig verbissen. Nur sein Gesicht ragt über den rosa Lilienkranz vor dem Stehpult in der großen Halle des Volkes in Peking. Er hält keine Rede, die sich zur Propaganda eignet. Zwei Stunden spricht er zur Eröffnung des diesjährigen Volkskongresses von seinen Aufgaben als chinesischer Regierungschef. Am Ende wirkt Wen Jiabao wie Chinas Sisyphos. Ein kleiner Mensch vor einem großen Haufen Probleme. Seine Problem- und Lösungsbeschreibungen waren neu und dringlicher als je zuvor. Als ahnte der Premier gar nicht, was er seinen Land da auftischte.

Die vergangenen fünf Jahre charakterisierte Wen wie folgt: „Die Wirtschaftsstruktur war irrational, die Fähigkeit zur selbstständigen Innovation nicht stark, die Veränderung des Wachstumsmodus ging langsam voran, der Verbrauch von Energie und Ressourcen war viel zu hoch, die Umweltverschmutzung verschärfte sich, die Widersprüche in der Bevölkerung waren gravierend, das Einkommensgefälle in der Gesellschaft vergrößerte sich weiter, die Entwicklung des Sozialwesens blieb zurück“, sagte Wen. Ein bemerkenswertes Resumée von fünf Jahren Regierungsarbeit.

Was aber folgt daraus? Welcher Plan gilt nun für die kommenden fünf Jahre? „Es gilt das Entwicklungskonzept zu verändern, den Entwicklungsmodus zu erneuern, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung wirklich in die Bahn zu lenken, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt“, sagte Wen. So schön Utopisches jenseits maoistischer Parteilyrik war von den Pekinger Kommunisten selten zu hören. Nichts Geringeres als den „Aufbau einer ressourcensparenden und umweltfreundlichen Gesellschaft“ forderte Wen. Er verlangte die „gesetzliche Schließung der Unternehmen, die Ressourcen zerstören, die Umwelt verschmutzen und den Bedingungen für sichere Produktion nicht entsprechen“. Doch dann müsste er wohl jeden vierten oder fünften Betrieb in China schließen.

Zu guter Letzt forderte Wen den „Aufbau neuer sozialistischer Dörfer“. Er sieht im neuen Dorfsozialismus den Kampf für bessere Bildung und Gesundheitsversorgung. Gestern versprach er allen 800 Millionen Bauern in China Steuerfreiheit, kostenlose Schulerziehung innerhalb von zwei Jahren und kostenlose Gesundheitsgrundversorgung innerhalb von vier Jahren. Das klingt, als wollten die Kommunisten unter Wen erneut den Kapitalismus verändern, wo man doch gerade dachte, sie hätten sich ihm angepasst. Oder ist der Kapitalismus in China schon so stark, dass ein Premierminister in Peking reden kann wie er will, weil er das Wirtschaftswachstum sowieso nicht gefährdet? „Es gilt, die Fähigkeit zur Einführung, Auswertung, Absorbierung und Reinnovation fortgeschrittener ausländischer Technologien allseitig zu erhöhen“, sagte Wen auch. Wenn schon Sisyphos, dann aber ein pfiffiger.

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