Vom Filmen und vom Scheitern

CINEBRASIL Alles andere als Samba, Glamour, Bikinis und bildstarke Favelafilme zeigt das brasilianische Filmfestival im Babylon Mitte, nämlich wie ein Wohnblock einen berühmten Regisseur die Nerven kosten kann

Mit einfachsten Mitteln hinterfragt er das Leben hinter der Fassade in Copacabana

VON MARLENE GIESE

276 Wohnungen hat der Wohnkomplex „Edifício Master“ an der Copacabana. Verteilt auf 12 Etagen leben hier über 500 Menschen. Darunter sind ein Callgirl, das mit Tochter und Schwester ein Zimmer teilt, ein Schauspieler im Ruhestand, ein verhinderter Fußballprofi und ein Hausmeister, der nachts von einer intakten Familie träumt. Alle könnte man dem Mittelstand zurechnen, alle leben unter demselben großen Dach – und doch aneinander vorbei.

Regisseur Eduardo Coutinho hat einen Dokumentarfilm über das Leben im architektonischen Mikrokosmos gedreht und stieß dabei auch an seine eigenen Grenzen. Um dem Leben zwischen den engen Betonwänden näher zu kommen, quartierte er sich und seine Filmcrew selbst ein. Er bezog das Apartment mit der Nummer 608 und schnupperte drei Wochen lang die Luft in den langen Fluren und die Einsamkeit in der sonst so quirligen Metropole. Das Filmprojekt stieß bei den wenigsten Bewohnern auf Gegenliebe. Viele Türen wurden ihm vor der Nase zugeschlagen. Der Film drohte an der herrschenden Anonymität der Hausbewohner zu scheitern.

Kleine und große Meisterwerke

Während Coutinho langsam, aber sicher die Nerven verliert, greift seine Kollegin Beth Formaggini selbst zur Kamera und fängt Zweifel und Ängste des Regisseurs während des Drehs ein. Die Arbeit des berühmten Filmschaffenden ist so im Fokus eines eigenen kleinen Meisterwerks gelandet. Beth Formagginis jüngstes Werk „Apartamento 608“ wird diesen Freitag gezeigt. Nach der Vorführung im Kino Babylon in Mitte stellt sie sich den Fragen des Publikums. Im Anschluss wird der am Ende doch noch fertig gestellte „Edifício Master“ von Eduardo Coutinho gezeigt. Der schaffte es zuletzt, 37 Menschen in seinem Film zu versammeln.

Dabei geht es ganz bewusst nicht um Samba, Glamour und Bikinis. Coutinho war ein Mitbegründer des Cinema Nôvo, das Ende der 1950er-Jahre einen kinematografischen Kontrapunkt zur glatten Oberfläche des Hollywood-Kinos schaffte. Plötzlich ging es um die realen Belange der Bevölkerung, um soziale Ungerechtigkeit und Hunger bei den Ärmsten. Coutinho, damals Anfang zwanzig, machte das Beste aus den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen.

Er hatte keine Zeit für lange Vorbereitungen, es gab keine Exposés, keine Drehbücher. „Eine Idee im Kopf, eine Kamera in der Hand“ war das Motto. An der Realisation von „Edifício Master“ sind im Jahr 2002 zwar eine Handvoll mehr Leute beschäftigt, seinem Stil ist Coutinho aber treu geblieben. Mit einfachsten Mitteln hinterfragt er das Leben hinter der Fassade in Copacabana.

„Vor allem bedient er nicht das Klischee des sonnigen und immer fröhlichen Brasiliens“, sagt Sidney Martins, der Erfinder der brasilianischen Filmwoche in Berlin. Im inzwischen fünften Jahr behauptet sich das Festival und findet jedes Mal mehr Partnerstädte. 2009 machte Cinebrasil in 12 deutschen Städten sowie in Bern in der Schweiz halt. Berlin soll der krönende Abschluss werden. Zu sehen gibt es neben „Edifício Master“ und „Apartamento 608“ drei weitere Dokumentarfilme, vier Spielfilme und neun Kurzfilme.

In dem Achtminüter „Banho de Mar“ kann man den Kurator sogar selbst in Aktion sehen. Unter der Regie von Theo Solnik spielt er einen lebensbejahenden jungen Mann, dessen bester Freund von der Welt nichts mehr wissen will. An einem für beide fremden Ort an der polnischen Ostseeküste versucht er, die Augen des Freundes wieder für das Schöne zu öffnen. Ein philosophischer Strandspaziergang.

Aber auch Freunde von bildstarken Favelafilmen à la „City of God“ sollten bei Cinebrasil auf ihre Kosten kommen – etwa bei „O Homem do Ano“ („Mann des Jahres“) von José Henrique Fonsecas. Der ehemalige Werbefilmer hat die kriminelle Karriere eines Jungen mit knalligen Farben und Gewehrsalven in Szene gesetzt. Ebenso bunt wird das Filmfest am Mittwochabend mit einem Konzert von Bê eröffnet. Die als Betina Ignacio in São Paulo geborene Sängerin präsentiert einen Balanceakt irgendwo zwischen Jazz und Bossa Nova, Funk und Reggae.

■ Eröffnungskonzert im Pfefferberg am 17. März, 20.00 Uhr

■ „O Homem do Ano“ am 18. März, 21.30 Uhr

■ „Apartamento 608“ und anschließendes Gespräch mit der Regisseurin am Freitag, 19. März, um 18.00 und „Edifício Master“ um 20.00 Uhr

■ Das ganze Programm unter: www.cinebrasil.info