Taub durch der Engel tönenden Ruf

SCHÖNHEIT Eine Hamburger Fotografin schickt Jörg-Uwe Albig in eine Abwärtsspirale: der Roman „Ueberdog“

Stella wird am Herzen gefasst von einem starken Dasein: Schmiddel heißt der Kerl, er verfügt über eine Aura, die selbst sein Penneroutfit nicht pulverisiert

VON ULRICH RÜDENAUER

Stella Sachs verehrt die Welt, in die sie durch den Sucher eines Fotoapparats hineinlinst. Sie ist angezogen von einem Leben, an dem sie per Schlüssellochblick teilhat, zu dem ihr aber doch kein rechter Zugang gewährt wird. Und das, obwohl sie sich mit allen Insignien einer schimmernden Schickeria ausstattet. Stella ist Szenefotografin, und sie möchte mit dem Blitzen ihrer Kamera Schönheit erzeugen. Sie lebt nicht nur zwischen verschiedenen Milieus, sondern empfindet sich als Botschafterin zwischen „den Sphären des Lichts und den armen, ratlosen, rastlosen Menschen“. Sie fühlt sich den Engeln nahe, jenen Lichtgestalten, die sie mit ihren Fotografien zu spiegeln sucht. Und sie sehnt sich nach deren Versprechen, nach Erlösung und Sinn.

In Jörg-Uwe Albigs neuem Roman „Ueberdog“ werden sie auf den ersten Seiten heraufbeschworen, die Cherubim. Als glamouröse Stars und Sternchen haben sie ihren Auftritt. Stella selbst allerdings ist nur dem Namen nach ein Himmelskörper. Dionysius Aerpagita und Thomas von Aquin liefern die Stichworte zur Engelslehre und Stella die anmutige Gestalt, an der die Geschichte einer auf die Probe gestellten Gläubigen exekutiert werden soll. Denn, wie heißt es schon bei Rilke über die fernen Wesen: „und gesetzt selbst, es nähme mich plötzlich einer ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“. Stella wird am Herzen gefasst von einem wirklich starken Dasein: Schmiddel heißt oder nennt sich der Kerl, er verfügt noch über andere Namen und eine Aura, die selbst sein Penneroutfit nicht zu pulverisieren vermag. Wo immer er auftaucht, gerät man in seinen Bann. Er ist das Kraftzentrum einer Gruppe von Obdachlosen, die sich in den aufgelassenen Wohlstandsnischen Hamburgs verkriechen oder am Hauptbahnhof tummeln, wo die aus Lautsprechern triefende klassische Musik solche Stadtnomaden eigentlich verscheuchen soll. Stella verfällt dieser Mischpoke aus vermeintlich Gescheiterten; sie lässt sich hinreißen von ihrem Stolz und ihrer Unkorrumpierbarkeit, ihrem Schmutz und ihrer Gleichgültigkeit. Zunächst fotografiert sie die Schmiddel-Gang, dann fängt sie an, mit den windigen Außenseitern zu leben. Ihre bürgerliche Existenz samt solidem Freund lässt sie hinter sich – als würde sie der Engel tönender Ruf taub machen gegen die eher sanften Klänge ihres bisherigen Lebens. „Wenn ich mich in jemanden verliebt hatte, dann war es die Gruppe; ihr Charisma, ihre Faszination, die alte schwarze Magie.“

Die Magie, weil schwarz, hat freilich etwas Unheimliches und Gefährliches auch. Stella schlittert in eine Abwärtsspirale, und Jörg-Uwe Albig erzählt die Reise nach unten und eine wundersame Rettung mit ausgebreiteten Engelsflügeln: sprachlich opulent, überambitioniert zuweilen, auch mit einem etwas aufgesetzten Humor, der sich aus der Persiflage einer kunterbunten Promiwelt speist. Dass die Sehnsucht nach dem Ray of Light und der großen Lichtgestalt eine Schimäre ist, man hätte es ahnen können. Dass die Ueber- von den Underdogs weniger der Habitus scheidet als halt ein bisschen Kleingeld, geschenkt. Statt Champagner gesüffelt wird jetzt eben Gabba gesoffen.

Schade ist, dass Albigs Roman, auch wenn er von Oberflächen handelt, seinen Figuren so wenig Tiefe gönnt. Man treibt mit diesen abgehalfterten Helden durch ein Szenemagazin-Hamburg, ohne mit ihnen zu hoffen oder um sie zu fürchten. Was engelhaft an ihnen sein soll, außer dass es durch den Roman-Überbau behauptet wird, muss man ebenfalls erst einmal herausfinden. Der ehemalige Journalist Albig, der mit „Berlin Palace“ ein interessantes Buch vorgelegt hat, erzählt in „Ueberdog“ von einer großen Leere, die nicht gefüllt werden kann, und sein Text lässt sich davon anstecken. Wie seine Fotografin die Seele ihrer Objekte, will er die seiner Figuren einfangen. Aber es entwickeln sich letztlich doch nur verhuschte, unscharfe Bilder. Zur Transzendenz fehlt es vermutlich an einer längeren Belichtungszeit.

Jörg-Uwe

Albig: „Ueberdog“. Tropen Verlag, Stuttgart 2013, 223 Seiten, 19,95 Euro