„Ich bin eine Art Bauchredner des Volkes“

ISLAND Der Schriftsteller Einar Már Gudmundsson hat ein Buch darüber geschrieben, wie die „neuen Expansionswikinger“ Island in den Ruin führten

■ 1954 in Reykjavík geboren. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Island. International erfolgreich wurde er mit seinem Roman „Engel des Universums“ (Goldmann, 1993). Der Schriftsteller hatte während der Proteste infolge der isländischen Finanzkrise 2008 die Regierung zum Rücktritt aufgefordert. Foto: Hordur Asbjornsson

taz: Herr Gudmunđsson, Sie sind Schriftsteller und Ihr Buch, eine Sammlung von Essays, ist eine fundiert-zornige Abrechnung mit den Bankern und den Politikern, die Island an den Rand des Abgrunds geführt haben. Hat der Crash Schriftsteller zu Ökonomen gemacht?

Einar Már Gudmunđsson: Als ich begann, bei Protestveranstaltungen zu sprechen und über die Krise zu schreiben, habe ich eine große Resonanz erfahren. Und ich hatte den Eindruck, ich kann das, was viele Leute dachten und erlebten, gut in Worte fassen. Plötzlich fand ich mich in der Rolle einer Art von Bauchredner des Volks wieder. Gleichzeitig meine ich, die Machthaber hatten schon viel zu lange das Wort in dieser Krisendebatte geführt und mit ihrer Interpretation geprägt. Da will ich mich einmischen.

Sie zitieren Oscar Wilde: Es sei ein Glück für die nordischen Wikinger gewesen, Amerika vor Kolumbus entdeckt und dann schnell wieder vergessen zu haben. Islands Staatspräsident Grimsson schwärmte nur wenige Monate vor dem Finanzcrash von den Bankern als „Ausdruck des isländischen Geschäftssinns“. Was unterscheidet die alten von den neuen Wikingern?

Die Wikinger waren Handelsleute, die etwas mit nach Hause brachten. Die neuen Expansionswikinger, wie ich sie nenne, haben alles aus unserem Lande herausgetragen und die Beute dann in London oder sonst irgendwo im Ausland investiert. Nun soll das gewöhnliche Volk auf Island dafür zahlen, und niemand verlangt von den Expansionswikingern, dass sie die Beute gefälligst zurückgeben.

Aber hat von den Boomjahren nicht die ganze isländische Gesellschaft profitiert?

Nein. Der Aufschwung kam keinesfalls bei allen an. Nur eine Zahl: Ein Drittel aller Lohnabhängigen lebte vom Mindestlohn. Wo gibt es das sonst noch? Die Niedriglöhne waren und sind in Island absurd niedrig. Man braucht mehrere Jobs oder einen mittleren Lohn, um eine Familie ernähren zu können.

„Furcht und Elend der freien Marktwirtschaft“ haben Sie in Anlehnung an Brecht einen Essay überschrieben. Warum traf der Neoliberalismus gerade in Island auf so wenig Widerstand?

Das war ja eine dreißig Jahre lange Entwicklung. Es begann damit, dass nicht mehr mit Fischen, sondern mit Fischfangquoten gehandelt wurde. Die Politik der lange an der Macht befindlichen Selbstständigkeitspartei bestand in der Privatisierung der Ressourcen, die zuvor im Allgemeinbesitz der Nation gelegen hatten. Das wurde als „Ende der staatlichen Bevormundung“ verkauft. Der eigentliche Sündenfall war dann die Privatisierung der Banken. Die wurden von Politikern einfach politischen Freunden zugeschustert. Es entstand ein politisch-finanzieller Machtklüngel. Und da dieser zu einem großen Teil auch die Medien kontrollierte, gab es kaum kritische Stimmen. INTERVIEW: REINHARD WOLFF

Einar Már Gudmunđsson: „Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin“. Aus dem Isländischen von Gudrun Kloes. Hanser, München 2010. 208 Seiten, 16,90 Euro