Fernziel: Frieden

Der Machtantritt der Hamas birgt die Chance auf ein Ende der Gewalt im Nahen Osten. Denn die Ultranationalisten auf beiden Seiten müssen nun Kompromisse schließen

Von der Hamas den Gewaltverzicht zu fordern ist richtig. Für eine Anerkennung Israels ist es zu früh Auch von Israel muss verlangt werden, das Existenzrecht eines Palästinenserstaates anzuerkennen

Nach dem Wahlsieg der islamistischen Hamas befürchteten viele das Ende des Friedensprozesses im Nahen Osten. Doch wer aufrichtig ist, muss zugeben, dass dieser Prozess schon lange zum Erliegen gekommen war. So eröffnen sich mit dem Machtantritt der Hardliner und Friedensgegner von Hamas auch ganz neue Perspektiven eines pragmatischen Ausgleichs zwischen den ultranationalistischen Strömungen in Israel und Palästina.

In Israel übernahm nach der Ermordung Jitzhak Rabins im Jahr 1995 jene Hälfte der Bevölkerung das Regiment, die bekennende Gegner des Osloer Friedensprozesses wie Benjamin Netanjahu und Ariel Scharon in die Regierungsverantwortung wählte. Das Ziel war es nun, nichts oder doch so wenig wie möglich besetztes Land an einen palästinensischen Rumpfstaat abzutreten und die völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen auszubauen. Als Taktik dienten die Verzögerung der Friedensverhandlungen in Kernfragen einer jeden Friedensregelung (Jerusalem, Staatsfrage, Siedlungen, Flüchtlinge, Wasserzugang) und die Nichtumsetzung bereits getroffener Vereinbarungen über den israelischen Truppenabzug aus dem Westjordanland.

Als die Palästinenser sich im Jahr 2000 nach einem Besuch Scharons auf dem Tempelberg zum Volksaufstand, der „zweiten Intifada“, provozieren ließen, zeigte dies den Machtverfall der Regierung Arafats und gab den palästinensischen Radikalen und Terroristen um die Hamas Auftrieb. Eine Erfolg versprechende Strategie des gewaltfreien Widerstands wie unter Mahatma Gandhi in Indien ist im israelisch-palästinensischen Konflikt nie erprobt worden. Scharon gab dies alle Möglichkeiten, die israelische Besatzung mit harter Hand fortzuschreiben und der Welt mit der Rückgabe Gazas vorzugaukeln, er strebe einseitig und ohne Verhandlungen mit den Palästinensern eine Zwei-Staaten-Lösung an. Die „Roadmap“, die die Rückgabe des Westjordanlandes zum Ziel hatte, führte Scharon stets im Munde. An sie gehalten hat er sich nie.

In Israel und Palästina stehen sich heute Ultranationalisten mit Regierungsgewalt gegenüber: ein Benjamin Netanjahu in Wartestellung, der die von ihm vertretene, zionistisch-revisionistische Einverleibung des Westjordanlandes in den Staat Israel fortführen will. Und eine mühsam vom PLO-Präsidenten Mahmud Abbas kontrollierte Majorität der Hamas, von der nicht einmal klar ist, ob sie Israels Existenz anerkennt und ob sie der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung entsagt. Eine brisante Situation, in der sich allerdings keine Seite einen Krieg erlauben kann.

Das kann nur bedeuten, dass die bislang Kompromisslosen im Regierungsamt Kompromisse schließen werden müssen. Sie sind es, die die friedensskeptischen Teile ihrer Bevölkerungen, aber auch die Ängstlichen und Sicherheitsbedürftigen und die Protestwähler auf beiden Seiten repräsentieren, die jahrelang nach der harten Hand gerufen haben. Nunmehr werden sie ihrer jeweiligen Klientel die Notwendigkeit des Friedens erklären müssen. Frieden lässt sich aber nur zwischen Staaten und Völkern, nicht allein zwischen Gruppierungen machen – und aus dem „halben“ Frieden von Oslo muss nun endlich ein echter Frieden werden.

Wer heute der PLO nachweint, der verkennt, dass sich die ehemalige Befreiungsbewegung längst in eine Regierungspartei gewandelt hatte, die schon lange nicht mehr alle Palästinenser repräsentierte. Über zehn Jahre hielten viele Palästinenser zähneknirschend und trotz aller Kritik an Korruption und Selbstherrlichkeit am nationalen Idol Jassir Arafat fest. Aber nach dessen Tod war die PLO verbrauchter denn je und wurde zwischen der verhandlungsunwilligen Likud-Partei Scharons und einer gewaltbereiten Hamas-Bewegung aufgerieben.

Allerdings hat die Hamas seit 2004 keine Terroranschläge mehr verübt, und schon seit vielen Jahren hat sie Zeichen ausgesandt, die eine Hinwendung zur Zwei-Staaten-Lösung – zu den „Grenzen von 1967“, wie es stets heißt – erhoffen lassen. Dass die Palästinenser für ihre nationale Unabhängigkeit sogar ihre einstmals säkularen Freiheiten aufgeben, mag man beklagen. Dass sich die Hamas allerdings zu einem diplomatisch gewandelten und demokratischen Islamismus hin entwickelt, ist durchaus vorstellbar.

Bundeskanzlerin Merkel und die EU liegen sicher richtig, wenn sie von der Hamas Gewaltverzicht verlangen. Nicht zuletzt die Geschichte Nordirlands hat gelehrt, welche langfristigen Probleme aus der Spaltung einer Befreiungsbewegung in politische und militärische Arme entstehen kann. Ob Merkel allerdings politisch legitim handelt und strategisch gut beraten ist, von der Hamas gleich auf einen Schlag auch die Anerkennung Israels zu verlangen, ist sehr viel schwerer zu beantworten.

Merkel und Israel können darauf verweisen, dass die frühere Anerkennung Israels durch die Regierung Arafats eben auch für alle nachfolgenden Regierungen bindend sein müsse – nur dass „Palästina“ eben bislang kein Staat im Sinne des Völkerrechts und Arafats wie auch Abbas’ „Regierung“ in Wahrheit nichts als eine „Autonomiebehörde“ ist. Das Versäumnis Israels, die von den Palästinensern geforderte Gründung eines palästinensischen Staates neben Israel zu ermöglichen, fällt nun auf alle Beteiligten zurück. Mit einigem Recht kann die Hamas darauf verweisen, dass ihre Anerkennung des Staates Israel noch ausstehe und an Verhandlungsbedingungen gebunden sei – beispielsweise an die Anerkennung eines palästinensischen Staates.

Wenn die deutsche Bundesregierung ihren Kurs einer schleichenden Wiedereingliederung in die amerikanische Imperialpolitik, zu der auch die bedingungslose Unterstützung Israels gehört, fortsetzt, statt im selben Atemzug wie die Hamas auch die israelische Rechte aufzufordern, endlich die beiderseitigen Existenzrechte anzuerkennen, dann verspielt sie jeden Kredit, den sich Deutschland als ehrlicher Makler und Hauptfinanzier des Osloer Friedensprozesses im Nahen Osten verdient hat.

Wohlgemerkt: Nicht die frühere Gewalt der Hamas sollte politisch belohnt werden, sondern ihre mögliche Wendung zu einem mit Israel koexistenzbereiten Islamismus. Eine solche Entwicklung wäre nicht allein für Israel und die Palästinensergebiete, sondern für den ganzen Nahen Osten von enormer Bedeutung. Eine kompromissfähige Hamas wäre nach der Türkei des Ministerpräsidenten Erdogan eine zweite zwar islamistische, aber demokratisch gewählte und dem Weltfrieden zugewandte Regierungspartei im Nahen Osten.

Welche Perspektiven sich damit für die von politischen und sozialen Krisen geschüttelte islamische Welt hierbei auftun würden, kann derzeit nur erahnt werden. Diese Chance durch eine ungeschickte Diplomatie zu vertun, die es der Hamas wie auch der israelischen Regierung allzu leicht machen würde, ihre im Grunde bequemen maximalistischen Positionen fortzuschreiben, wäre allerdings – so viel kann man heute schon sagen – verantwortungslos. KAI HAFEZ