Unbeachtete Sprünge

Die olympischen Winterspiele in Turin waren ein tolles Fernsehereignis – obwohl das italienische Publikum desinteressiert war und sportliche Sensationen ausblieben. Wie kann das sein?

VON JAN FEDDERSEN

Das aus deutscher Sicht einzig Spannende ist der letzte Wettbewerb im Biathlon – und bei dem die Frage, ob die Athletin Uschi Disl wenn schon kein Gold, so doch wenigstens eine Medaille zum Abschluss ihrer olympischen Karriere gewinnen kann. Für Nichteingeweihte sei so viel gesagt: Die Bayerin verkörpert hierzulande den weiblichen Teil des Biathlons schlechthin.

Perfekte Hauptrollen

Und wie es sich für eine gute Inszenierung gehört, war Disl stets eine perfekte Besetzung der Hauptrolle – denn man wusste nie, ob sie allem läuferischen Können, ihrem schaukelnd-zähen Stil in der Loipe zum Trotz am Schießstand sich alles verdirbt oder die Nerven behält und gewinnt.

Kurzum: Zwei Wochen Winterspiele aus der Stadt, die sonst nur durch den Fußballverein Juventus und das Automobilwerk Fiat von sich reden machte, sind fast vorbei. Deutschland liegt im Medaillenspiegel vorn – was sowohl dem ZDF wie der ARD quotenmäßig gut getan hat. Denn beide öffentlich-rechtlichen Käufer der Übertragungslizenzen aus der Welt der fünf Ringe profitierten von den knapp zwei Dutzend Medaillen. Biathlon, Langlauf, Nordische Kombination – das waren die Liveübertragungen, die beiden Sendern Marktanteile bis zu 50 Prozent eintrugen.

Illusionslos darf man trotzdem summieren, dass ohne deutsche Beteiligung der Wettbewerb kaum Interesse fand. Eiskunstlaufen beispielsweise – das ZDF übertrag vorgestern Abend sogar eine Karnevalssitzung statt der Kür der Frauen. Aus Gründen allgemeiner Weltinteressiertheit guckt niemand zu: Diesem allgemeingültigen Sportgesetz sind auch Olympische Spiele unterworfen. Tennis ohne Graf & Becker sind hiesig Randsportdisziplinen; die Formel 1 ohne Michael Schumacher wird mit Desinteresse bestraft.

Von all diesen Erwägungen unbelastet aber bleibt das Internationale Olympische Komitee (IOC). Wo auch immer man Ergebnisse in der Vermarktung erzielt – unterm Strich kommt stets, seit der offen beherzigten Kommerzialisierung der Olympischen Spiele, ein Zuwachs heraus. Das IOC selbst musste in Turin (und den anderen Orten der Disziplinen) lernen, dass es ohne Publikum nicht geht. Vergeben hatte man vor sieben Jahren diese Winterspiele an diese italienische Stadt, weil Italien mehr ökonomischen Einfluss geltend machen kann als die Schweiz. Deren Kandidat, die Stadt Sion, unterlag Turin. Aber in den Bergen oberhalb von Turin war und ist Platz für schöne Sportstätten, nicht jedoch für Zuschauer. Das genervte Reden über langwierige Zu- und Abreisen übertönte fast die gewöhnliche Sportberichterstattung. In puncto Marketing wirkte sich auch negativ aus, dass die Athleten selbst von fehlender Stimmung berichteten.

Publikum verstimmt

Das IOC, Präsident Jacques Rogge wie dessen Stellvertreter Thomas Mach, mussten einsehen: Ohne eine gewisse Verliebtheit der Bewohner eines Wintersportortes in das athletische Geschehen geht gar nichts. Sieht nämlich abtörnend und anteilnahmslos an den Fernsehschirmen aus – und das mindert gleich die Quote, wenn nicht ein Athlet oder eine Athletin eines Landes mit von der Partie ist.

Aber waren es nun schöne Spiele, abgesehen vom Eishockeyfinale morgen kurz vor der Schlussfeier? Wie immer, sportlich betrachtet: ja. Es lebte wie alle vier Jahre wieder von Favoriten und ihrem Versagen (Eiskunstläuferin Sasha Cohen; Eisschnellläuferin Anni Friesinger, Nordischkombinierer Ronny Ackermann oder Rodler Georg Hackl); zugleich von Triumphen der Aufsteiger, von SportlerInnen, die sonst nur selten, aber in olympischer Angelegenheit ganz groß wurden – Georg Hettich in der Nordischen Kombination, Shizuka Arakawa, Irene Wüst beim Eisschnelllaufen oder Michael Greis beim Biathlon.

Sensationen blieben aus

Anderes blieb im Allgemeinen, aus deutscher Sicht der gewöhnliche Dreifacherfolg der Rodlerinnen, die Silbermedaille der Staffel der Biathletinnen oder die Goldmedaille für André Lange im Bobfahren: Man hatte es quasi einkalkuliert. Sensationelle GewinnerInnen – wie bei den Sommerspielen 1972 Ulrike Meyfarth oder 1984 bei den Winterspielen in Sarajevo durch die Schweizer Skiläuferin Michela Figini – gab es keine einzige.

Turin wird morgen Abend beendet sein. Für Fans Olympischer Spiele im Fernsehen – wo man sie ja am besten genießen kann, allein schon der Kameraleistungen wegen – gilt ja das eherne Gesetz: Nach den Spielen ist vor den Spielen. Und Vancouver, die kanadische Multikultimetropole am Pazifik? Mit den atemberaubenden Gebirgskulissen im Hintergrund? Irgendwie ist diese Metropole auch nichts als eine mächtige Stadt. Klingt aber besser als Turin, irgendwie: natur-, also schneeverbundener. Ist vielleicht Geschmackssache.

Viele der deutschen SportlerInnen werden dann nicht mehr dabei sein – die letzten der DDR-geschmiedeten Athleten (Ricco Groß, Silke Kraushaar, Sylke Otto et al.) haben kaum noch Chancen. Uschi Disl wird heute an den Start gehen und kaum Anlass haben zu glauben, die Trainingsfron noch vier weitere Jahre auf sich nehmen zu wollen. Im Sinne einer zu schreibenden Heldinnengeschichte wäre Gold für sie nur gerecht: Prämie für Zähigkeit und so etwas wie das Vermögen, eine unmögliche Sportart zum Quotenbringer zu machen.