Angst liegt in der Seeluft

Rügener Hoteliers bekommen dieser Tage seltsame Fragen gestellt. Ob tote Vögel vom Himmel fallen, möchten die Gäste wissen. Nein. Aber wissen das auch die Touristen?

AUS SELLIN AUF RÜGENBARBARA BOLLWAHN

Fünfundzwanzig Feuerwehruniformen hängen fein säuberlich an ihren Haken. Darüber die Helme, unten stehen die Stiefel. Vor der Tür sind zwei rote Einsatzwagen geparkt. Alles ist bereit zum Ausrücken der Freiwilligen Feuerwehr in Sellin, dem Ostseebad auf der Insel Rügen. Doch es brennt nicht. Zumindest gibt es kein Feuer mit Rauch und Flammen. Es ist eher etwas wie ein Schwelbrand mit dem Namen Vogelgrippe. Aus diesem Grund dürfen an diesem Abend auch Unbefugte die rote Tür zum Feuerwehrhaus benutzen, an der „Zutritt verboten“ steht.

Das Ostseebad Sellin, das mit seiner alten Seebrücke neben Binz und Gören zu den schönsten Badeorten auf Rügen gehört, ist die erste Gemeinde der Insel, die zu einer öffentlichen Veranstaltung lädt, in den Feuerwehrsaal. Es hat am Sonntag im nahe gelegenen Gingst im Dorfkrug eine Versammlung der Kleintier- und Geflügelzüchter gegeben. Doch der angekündigte Kreisveterinär war nicht gekommen. Er war auf dem Hof eines Bauern, dessen Federvieh vorsorglich getötet werden musste. Da blieben die Züchter allein mit ihren Fragen.

Ganz anders sieht es am Dienstagabend in Sellin aus. Hier sind alle gekommen, die Bürgermeister Reinhard Liedtke eingeladen hat. Obwohl sie mehr als genug zu tun haben: Andrea Quiel, die Leiterin des Krisenstabes des für Sellin zuständigen Amtes Mönchgut-Granitz, Raymond Kiesbye, der Chef der Rügener Tourismuszentrale, Brigitte Pisch, die Kurdirektorin von Sellin, ein Herr vom Ordnungsamt mit dem schönen Namen Garant. Und es sind die erschienen, für die der ehrenamtliche Bürgermeister die Veranstaltung organisiert hat: Hoteliers, Gastronomen und Pensionsbetreiber, etwa 40 Männer und Frauen in mittleren Jahren, die Angst haben, bald nicht mehr genug zu tun zu haben. Ostern steht vor der Tür, es gibt schon die ersten Stornierungen, und sie müssen am Telefon absurde Fragen beantworten. Ob einem tote Vögel auf den Kopf fallen? Ob die Inselbewohner in Schutzanzügen rumlaufen? Sie wissen nicht recht, ob sie darüber lachen oder weinen sollen.

„Der Sachverhalt ist so, dass wir die Vogelgrippe haben“, eröffnet der parteilose Bürgermeister, der außerdem für die FDP im Kreistag von Rügen sitzt, den Abend. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts hat er hinter dem Podium eine Karte von Rügen mit den Fundorten infizierter Wildvögel aufgehängt. Bisher gibt es im Amtsbereich, zu dem Sellin gehört, 126 Funde, von denen 7 positiv getestet sind. Der 45-jährige Diplomagraringenieur mit Schnauzbart, himmelblauem Hemd und schwarzem Jackett hat die Versammlung nicht ganz uneigennützig einberufen. Wie fast jeder auf Rügen hat auch er mit dem Tourismus zu tun. Liedtke betreibt die Pension „Edelweiß“. Fünf Ferienwohnungen, „wunderschöne“, wie er sagt.

Nach wenigen Minuten fällt das Wort Stornierungen zum ersten Mal. Stornierungen von Zimmern, von Hochzeitsfeiern, von Kuren in der Mutter-Kind-Klinik. Liedtke appelliert, alle Absagen zu notieren. „Den finanziellen und den Imageschaden können wir alle nur erahnen.“ Betretene Gesichter und Nicken im Saal der Freiwilligen Feuerwehr.

Andrea Quiel, der Leiterin des Krisenstabes, ist der Rund-um-die-Uhr-Einsatz der vergangenen Tage nicht anzusehen. „Es ist überhaupt kein Problem, den Urlaub auf der Insel Rügen zu verbringen“, sagt die blonde Frau. Sie spricht den Anwesenden aus dem Herzen: „Wir dürfen nicht vergessen, es ist auf Rügen ein natürlicher Vorgang, dass jeden Winter Enten und Schwäne sterben.“ Wenn sich alle an die Verhaltensregeln hielten, könne man sich nicht infizieren. Dann erzählt sie von einem Urlauber, der sich nicht an die Regeln gehalten und am Samstag am Strand von Göhren einen verendenden Schwan angefasst hat. Einen Schwan, der später positiv getestet wurde.

Ist dies der Moment? Offenbart sich hier, bei der Freiwilligen Feuerwehr in Sellin, ein potenzieller Fall der Übertragung der gefährlichen Vogelgrippe auf den Menschen? Frau Quiel macht nicht den Eindruck, und auch im Saal hält niemand die Luft an. „Er wurde sofort mit Tabletten versorgt“, sagt sie. Am gleichen Tag, an dem sich der Mann gemeldet habe, habe ihm die Polizei Tamiflu-Tabletten gebracht. Der Urlauber sei wohlauf. Und schon erzählt die örtliche Krisenmanagerin von einem Spatzen, der in einer Kita von „unseren Leuten in Vollschutz“ geborgen wurde – ein gutes Beispiel für „den kindgerechten Umgang“ mit toten Vögeln.

Den Hoteliers geht es weniger um das Virus. Schadensbegrenzung lautet das Stichwort an diesem Abend. „Ein einheitliches Vorgehen, nicht, dass jede Gemeinde ihr eigenes Süppchen kocht“, fordert die Leiterin einer Mutter-Kind-Klinik. „Alles andere kann sich nur negativ auswirken.“ Ein Mann regt an, die Seuchenmatten auf dem Rügen-Damm ganz abzubauen. Andrea Quiel kündigt an, das auf der nächsten Krisensitzung anzusprechen. „Einfach den Strand umpflügen“, empfiehlt ein Gastronom, um Eltern die Angst zu nehmen, dass ihre Kinder Vogelfedern anfassen könnten.

Tourismuschef Raymond Kiesbye verspricht eine Imagekampagne für Rügen. Der Tourismusverband und das Wirtschaftsministerium in Schwerin hätten bereits Unterstützung signalisiert. „Aber erst, wenn Rügen aus den Schlagzeilen raus ist.“

In diesem Moment stürzt Rügen ab. Die Karte fällt von der Wand.