Chance auf Neubeginn

AUSBILDUNG Die Hamburger „Bezahlbar“ bietet Jugendlichen mit schlechtem oder gar keinem Schulabschluss die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren

VON AMADEUS ULRICH

Lisa hat den Bon vergessen. „Das war halt so’n Ghettokiosk“, rechtfertigt sie sich gegenüber ihrer Betreuerin. Sie war Kekse kaufen, und das nicht von ihrem Geld. Den Bon braucht sie fürs Kassenbuch, um später gegenzurechnen – wie üblich, wenn man für die Belegschaft einkauft. Nun muss sie noch mal zurück und sich die Kekse quittieren lassen. Lisa stöhnt. Aber da muss sie durch. Es ist der erste Praktikumstag der 18-Jährigen in der „Bezahlbar“.

Die „Bar“ ist ein Geschäft und seit drei Jahren Teil des Ausbildungsbetriebes Jugendbildung Hamburg (JBH) im Stadtteil Barmbek. Dort werden gespendete Klamotten verkauft, die für jeden bezahlbar sind: T-Shirts für 50 Cent, Hosen für zwei Euro und Schuhe für 20, die vorher im Laden das Zehnfache gekostet haben. Einkaufen können hier Menschen, die ein bestimmtes Jahreseinkommen nicht überschreiten und staatliche Transferleistungen beziehen.

Doch werden hier auch junge Erwachsene wie Lisa ausgebildet. Sie kam vor einem Jahr zur JBH und absolviert nun in der „Bezahlbar“ das dreimonatige Praktikum, das sie für ihre Ausbildung zur Verkäuferin benötigt. Zuvor war sie bei einem Tierfuttermarkt, doch dort gefiel es ihr nicht. Sie ging nicht mehr hin, ihr wurde gekündigt. „Ich durfte da nur die Drecksarbeit machen“, erzählt sie.

Lisa hat einen Hauptschulabschluss. Sie begann nach der Schule als Zahnarzthelferin, auch dort wurde sie entlassen. Weil sie kein Latein konnte, hieß es. „Die mochten mich locker nicht“, sagt Lisa. Die Ausbildung in der „Bezahlbar“ ist für sie eine neue Chance. Allerdings sagt sie: „Wir sind hier, weil wir hier sein müssen.“ Mit „wir“ meint sie die sechs Jugendlichen zwischen 17 und 25 Jahren, die derzeit ihr Praktikum in der „Bezahlbar“ machen.

Hier lernen sie, eine Kasse zu bedienen, EDV-Kenntnisse, Warenwirtschaft, wie man eine Artikelnummer eingibt, den Preis bestimmt und die Etiketten ausdruckt. Die PraktikantInnen betreuen und beraten auch die Kunden. Immer dabei: ein Betreuer. Heute ist es Katja Niessen. Sie bezeichnet das Praktikum in der „Bezahlbar“ als „Neustart“, bei dem die Jugendlichen Zertifikate erwerben, die sie den meist dünnen Bewerbungen beilegen können. Die meisten von ihnen hätten einen kleinen schwarzen Fleck im Lebenslauf.

„Bei vielen mag ich gar keine alten Zeugnisse verschicken, das schadet eher“, sagt Niessen. Jetzt dürfen die Azubis viel machen, was in einem herkömmlichen Betrieb undenkbar wäre, etwa Kassieren im ersten Lehrjahr. Die Monatsabrechnung zu machen, sei normalerweise auch nicht üblich, sagt Niessen. „Die Jugendlichen bringen sogar das Geld zur Bank. Das ist ungewöhnlich.“ Pünktlich sein und den ganzen Tag durchhalten; darum gehe es in erster Linie. „Es ist ein Sprungbrett in Betriebe außerhalb der JBH. Wir möchten nicht, dass sie hier die ganze Zeit in der Bezahlbar arbeiten“, sagt Katja Niessen.

Die Jugendlichen erhalten als Ausbildungsvergütung 316 Euro im Monat im ersten Lehrjahr. In der JBH können sie eine Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhandel, Verkäufer oder zur Verkaufshilfe machen. Besonders wichtig sei es dabei stets, den Jugendlichen ihr Selbstvertrauen wiederzugeben. „Viele sind sehr schüchtern“, sagt Katja Niessen. „Und eigentlich glücklich, hier sein zu dürfen – auch wenn sie das nicht zugeben wollen.“

Wie die 21-jährige Berivan, die ebenfalls ihr obligatorisches Praktikum in der „Bezahlbar“ macht. Sie sagt, sie sei hier, weil sie keine andere Wahl habe, – genauso wie Lisa. „Aber sonst müsste ich zum Amt und als Billigkraft irgendwo arbeiten.“ Hätte sie mal lieber damals die Schule weitergemacht, sagt sie. Doch sie wurde wegen ihres mäßigen Hauptschulabschlusses nicht zur Realschule zugelassen. Sie sei dann von einer Maßnahme zur nächsten, sagt sie. „Das konnte so nicht weitergehen, ich wurde immer fauler.“

Am liebsten würde sie ihren Realschulabschluss nachholen und Fachabitur machen. „Ich weiß genau, dass ich diese Papiere mein Leben lang brauche. Ich möchte nicht täglich acht Stunden an der Kasse sitzen.“ Berivan erzählt, dass sich viele Auszubildende in der Jugendbildung keine Mühe geben würden. „Die kommen nie und verkacken dann die Prüfung“, sagt sie. Sie will ihre Chance nutzen: „Ich zieh’s bis zum Ende durch.“