die taz vor 19 jahren über die die justiz und den hiv-virus
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Der Liebende zieht während der Umarmung das Stilett: Dieser Tod käme sofort und nicht schleichend wie bei Aids. Der Fall wäre justiziabel.

Gesellschaftlicher Verantwortungskodex manifestiert sich auch in juristischen Regeln und Gesetzen. Warum soll Aids da herausfallen? Die Bereitschaft zur Infektion eines Ahnungslosen mit einem Virus, von dem heute niemand sagen kann, ob er nicht immer tödlich enden wird, ist kein Kavaliersdelikt. Selbstverständlich trägt der Gesunde seinen erheblichen Teil an der Verantwortung, wenn er sich nicht schützt. Aber wollen wir nur noch eine Gesellschaft im Kettenhemd, in der jeder dem anderen mißtrauen muß?

Selbstverständlich hat derjenige, der um eine Infektion weiß, die Pflicht, den anderen davon in Kenntnis zu setzen, auch wenn er dadurch Liebesentzug fürchten muß. Weil der andere auch das Recht hat, sich ihm zu entziehen. Auch Sexualität muß vor Gerichten verhandelt werden können, wie z. B. Vergewaltigung in der Ehe. Zu diskutieren ist, ob das juristische Instrumentarium die komplexe Problematik, die durch Aids gegeben ist, erfaßt. Aber die strafrechtliche Verfolgung darf kein Tabu sein.

Wer Schweigen über diese Fragen legt, mit dem stehenden Schwanz das Aussetzen des Kopfes entschuldigt und die Verantwortungslosigkeit übersieht, der leistet der Verteidigung der persönlichen Rechte einen schlechten Dienst und der Forderung von Zwangsuntersuchungen, Meldepflicht und Tätowierungen Infizierter Vorschub. Er läßt mit jedem Toten einen weiteren Gauweiler aufstehen.

Kuno Kruse, taz, 20. 2. 1987