Fern, aber gegenwärtig

Die Tiefen der erlebten Geschichte auszuhorchen verstehen: Walter Kempowski liest im Literaturhaus aus seinem jüngsten Tagebuch „Hamit“

Immer wieder hat sich Walter Kempowski der literarischen Form des Tagebuchs gewidmet: Im 1990 erschienenen Band Sirius berichtete er autobiographisch aus dem Jahr 1983; Alkor, erschienen 2001, hatte die Ereignisse von 1989 zum Thema. Soeben hat der Knaus-Verlag ein weiteres Tagebuch des Autors herausgegeben: „Hamit“ – so sagen die Menschen im Erzgebirge, wenn sie von „Heimat“ sprechen.

Der im vergangenen Jahr mit dem Lübecker Thomas Mann-Preis geehrte Kempowski wurde 1929 in Rostock geboren. Nach dem Krieg arbeitete er als Verkäufer in einem Lebensmittellager der US Army in Wiesbaden und wurde 1948 bei einem Heimatbesuch in Rostock von einem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu acht Jahren Haft in Bautzen verurteilt. Er ist vor allem mit der mehrbändigen Textcollage „Echolot“ in den Fokus der Öffentlichkeit getreten und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart.

Gerade in seinen Tagebüchern tritt uns der Autor auf unverwechselbare und schmerzliche Weise entgegen: In Hamit beschreibt Kempowski das Jahr 1990, als er nach Jahren in Westdeutschland nach Rostock zurückkehrte, den Ort seiner Verhaftung: „So fern war sie auch, die Heimat, in den vergangenen vierzig Jahren, fern aber gegenwärtig. Wir möchten sie gerne berühren, die alte Welt, die der Ort unserer frühen Schmerzen ist. Vielleicht geht von einer Berührung ‚Heilung‘ aus?“

Kempowskis Werk – Tagebücher wie auch die Romane Tadellöser & Wolff, Aus großer Zeit und Herzlich Willkommen – ist stets durchdrungen vom Kleinen und Nebensächlichen. Er ist nicht nur der große Chronist, sondern auch ein ironischer Beobachter des vergessenen Alltags: Der Literaturbetrieb kann da zu wunderbaren Reflexionen dienen, ein gutes Essen taugt ihm zu einem Jauchzer über den Zusammenbruch der Sowjetunion.

Es ist schwieriger zurückzukommen, als fortzugehen. Davon erzählt der in Nartum bei Bremen lebende Kempowski auch in Hamit, einem Buch, das die Tiefen der erlebten Geschichte auszuhorchen versteht. Persönliche Geschichte und Weltereignis, eigene Befindlichkeit und Chronik, Dokumentation und Subjektivismus: Die Legierung seines bisweilen megalomanen literarischen Anspruchs ist ein einzigartiges Durcheinander, das doch stets im Jahr des Kriegsendes seinen Ausgangspunkt findet: „Zentrum des Werks muss das Jahr 1945 sein“, schreibt er, „der Schlund des Trichters, auf den alles zudringt.“

Jetzt liest Walter Kempowski – vor leider bereits ausverkauftem Hause – aus Hamit. Kaum zu ertragen das Haus der Eltern, der Ort, an dem Kempowski vom Tod des Vaters erfuhr und verhaftet wurde. Das Leid überwiegt. Aus Heimat ist Heimweh geworden. „Vielleicht geht von einer Berührung ‚Heilung‘ aus?“ Damit, so scheint es, ist nicht mehr zu rechnen. Der Abend wird von Volker Hage moderiert. MAREK STORCH

Walter Kempowski: „Hamit. Tagebuch 1990“, Knaus Verlag 2006, 432 S., 24,95 Euro.Die Lesung am Do, 23. 2., um 20 Uhr im Literaturhaus ist bereits ausverkauft