Literatur

Ein Russe auf Reisen

Wollen sie einen Menschen gut kennen lernen, nehmen sie ihn mit auf eine Reise. Das gilt natürlich auch für Völker. Wenn man also die Russen kennen lernen möchte, sollte man mit ihnen reisen. Viktor Jerofejew, Schriftsteller und Sohn eines sowjetischen Diplomaten, ist als Kosmopolit mit russischer Seele dafür gut geeignet. Fahren wir also mit ihm nach Alaska. Als guter Russe ist Jerofejew nicht frei vom Masochismus, die Russen zählen gerne Verluste, und Alaska ist ein nationaler Verlust. Bekanntlich hat Zar Alexander II. die Halbinsel 1867 für 7,5 Millionen Dollar verscheuert. Von Russland ist nicht viel geblieben. Ein paar orthodoxe Kirchen, ein Dorf mit Altgläubigen und eine weibliche Armee mit Matrjoschkas, die vom anderen Ufer der Behringstraße eingeschmuggelt werden. Verlustreich ging es auch auf der Straße von Moskau nach Warschau zu, einer der blutigsten in der europäischen Geschichte. Jerofejew zwingt sich und seinen Fahrer zur Langsamkeit, noch so eine russische Tugend. Der Überfluss an Raum macht einem zu schaffen, dazwischen nur miserable Hotels und Schlaglöcher. Man kommt durch Smolensk oder Witebsk, wo im Geburtshaus Chagalls kein einziges Bild des Malers hängt, ein anderer Verlust. Man fährt über Chatyn, wo Stalin polnische Offiziere erschießen ließ, über Minsk und Brest. Aus Pinsk stammt Scholtowski, der Doyen der sozialistischen Architektur, und in einem Kaff in der Nähe von Grodno erheben sich plötzlich die Ruinen eines Palastes aus der samartischen Ebene. Grodno, die weißrussische Grenzstadt, erinnert dann schon eher an an Warschau als an Moskau. Im 21. Jahrhundert versucht der Westen Russland nicht mehr mit Regimentern und Panzern zu erobern, sondern mit Lkw-Ladungen voller Konsumgüter. In Petersburg war Europa immer schon da, es ist die einzige Stadt Russlands, deren Bewohner sich dessen ganz bewusst sind. Vielleicht, so Jerofejew, hätte Peter der Große sie nicht gebaut, wenn er ihr Schicksal geahnt hätte. Doch, so Gott will, hat auch sie ihre schlimmste Geschichte hinter sich. Und was wären die Russen ohne Luxus und ohne Wodka. In zehn Jahren Krieg in Afghanistan hat Russland 14.000 Soldaten verloren, 30.000 Russen erliegen jährlich dem Alkohol.

SABINE BERKING

Viktor Jerofejew: „Der Mond ist kein Kochtopf. Ein Russe auf Reisen“. Marebuchverlag, Hamburg 2005