Ziellos ins Glück

Hin und her gerissen zwischen leeren Wüsten und vollen Tavernen: Rudolf von Waldenfels’ Reiseroman „Über die Grenze“

Ein Mann fährt mit dem Fahrrad durch den Orient. Allein ist er unterwegs, angetrieben von seiner Sehnsucht und immer wieder überrumpelt von der kargen Wüstenlandschaft. „Weder gab es hier Berge – jene kahlen, faltigen, das Licht einfangenden Berge, die ich im Iran gesehen hatte – noch gab es Salzseen oder alte Flussläufe. Die Piste verlief in einer geraden Linie über die Ebene. Wohin man schaute, man sah nichts als eine braune, gestaltlose Fläche, die einem ausgetrockneten Meeresboden glich.“

Der 1965 geborene und bislang als Wiener Burgschauspieler hervorgetretene Rudolf von Waldenfels schickt in seinem Debütroman „Über die Grenze“ den namenlosen Ich-Erzähler auf dem Landweg durch Irak, Pakistan, Indien, später durch Thailand, Laos und Kambodscha. Es ist eine strapaziöse Reise ohne Auftrag und ohne Ziel, mit einem müden Helden, der nicht mehr auszieht, um Abenteuer zu bestehen. Wer und was der Mann ist, erfährt man nicht, auch nicht den Grund seiner Reise, die unvermittelt in der Wüste Belutschistan beginnt und ebenso unvermittelt im Dschungel Thailands endet.

Der Mann erlebt eine Menge merkwürdiger Dinge – religiöse Rituale, Überfälle, Drogenkonsum, Sex mit Männern und Frauen, Naturrausch, Alleinsein. Doch es gibt keinen großen Aufbruch, kein wortreiches Entsagen, keine Wiedergeburt.

Vor allem gibt es kein Ankommen in einem besseren Leben. Dieser Verzicht auf eine geschlossene Geschichte mit spirituellem Überbau ist einer der großen Vorzüge dieses Reiseromans. Es hätte nahe gelegen, die Reise des Europäers als den Weg eines Seelensuchers zu formulieren – doch von Waldenfels vertraut lieber der Ambivalenz seiner Hauptfigur: Sie ist hin und her gerissen zwischen der leeren Wüste und den vollen Tavernen, zwischen Rausch und Enthaltsamkeit. So bleibt er näher dran am Menschen, an seiner Fehlerhaftigkeit und Unabgeschlossenheit.

In einer ruhigen Sprache von fast altmodischer Eleganz beschreibt Rudolf von Waldenfels Landschaften, Orte, Menschen und natürlich die Gefühle und Imaginationen seines Helden: „Ich sehe eine gelbe, weich angestrahlte Tür vor mir, umrandet vom Braun der Lehmmauer, ich sehe eine rot verschleierte Frau, die einen Plastikkübel in der Gasse ausleert, (…), ich sehe den Sand (…), milchfarben in der Morgensonne, und wie von einem weißen Flaum bewachsen (…) Und schließlich sehe ich die Wüste selber: ihr Ocker ist mit schwarzen Flecken besprenkelt, den Schatten, die nach einer weiteren Stunde verschwunden sein werden.“

Der Held ist ein zivilisationsmüder Alleingänger, ein Melancholiker. Er sucht die Wüste, um allein zu sein, und hält die Einsamkeit, in der alte Wunden aufbrechen, doch nicht lange aus. Menschliche Gesellschaft, meist sind es andere umherreisende Europäer, taugt ihm immer nur so lange, wie er sich im kurzen Rausch der Neugierde oder sexueller Begegnungen verlieren kann.

Von der Kälte in der Nacht und der Hitze am Tag liest man, von dem Ekel, auf verlausten Matratzen in billigen Herbergen zu hausen und auf Latrinen zu gehen, wo der Kot fußknöchelhoch steht. Als der Held beim Fahrradfahren seine körperliche Schmerzgrenze überschreitet, erlebt er den Rausch der Endorphine, die Landschaften fliegen da förmlich an ihm vorbei. Immer wieder sind es die Landschaften, die Trost spenden, ist es die ursprüngliche, wortlose Natur, in der der Mann „zu sich“ kommt. Deshalb auch der Sog der Wüste: „Ich wurde süchtig nach der Langeweile, die die Wüste in mir hervorrief“, gesteht er. JANA SITTNICK

Rudolf von Waldenfels: „Über die Grenze. Ein Reiseroman“. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2005, 158 Seiten, 16 Euro