LEXIKON DES MODERNEN UND UNMODERNEN FUSSBALLS
: Nahtstelle, die

liebt Fußball und schreibt darüber

CHRISTOPH BIERMANN

Es ist ein schöner kultureller Fortschritt, dass der Fußball im Laufe der letzten Jahre den Krieg auf dem Rasen beendet hat. Metaphorisch jedenfalls ist der Gefechtslärm verstummt, seit nirgends mehr von den Granaten die Rede ist, die Bomber vor den gegnerischen Toren abfeuern. Von irgendwelchen Mittelfeld-Generälen haben wir ewig lange nichts mehr gehört, und wohl nur der emeritierte Säulenheilige aller Fußballmachos, Rudi Assauer, würde eine Fußballmannschaft noch eine Truppe nennen.

Nein, die Militärs auf den Trainerbänken und ihre Truppen auf dem Platz haben sich in die Kasernen zurückgezogen. Platz gemacht haben sie für eine Generation von Coach-Couturiers, die dem Fußball neue Kleider anlegen. Maßgeschneidert sind deren Strategien und Taktiken, zu denen auch der beharrliche Versuch gehört, das gegnerische Spiel auseinanderzuschnibbeln. Womit sich aber leider einmal mehr das ganze Elend der Fußballmetaphorik zeigt.

Als sich der Fußball vor geraumer Zeit dahin entwickelte, dass die Spieler ihre Gegner nicht mehr in Manndeckung nahmen, war bald von Abwehrketten die Rede. Vor allem die Viererkette in der Verteidigung wurde zum vorherrschenden Modell, das heutzutage die meisten Mannschaften auf der Welt spielen. Da es inzwischen so unmilitärisch zugeht, soll diese von den Angreifern natürlich nicht mehr zerrissen oder gar gesprengt werden. Um einer Kette beizukommen, so wird kein Trainer müde, seinen Jungs einzutrichtern, muss deren Nahtstelle gesucht werden.

In der Praxis bedeutet es, dass ein Stürmer genau in dem Moment präzise angespielt werden soll, wenn er zwischen zwei Verteidigern durchschlüpft, die nicht ganz sicher sind, wer für ihn gerade verantwortlich ist. Vielleicht funktioniert das aber letztlich weniger oft als erhofft, weil Ketten zwar Glieder haben, die in der Schmiede miteinander verbunden, aber sicherlich keine Nahtstellen, an denen sie zusammengenäht werden. Selbst wenn man es für eine zweifellos reizvolle Vorstellung halten kann, dass aus der Schlachtordnung von einst ein eher femininer Schnittmusterbogen geworden ist, stimmt das Bild also hinten und vorne nicht.

Dem ein oder anderen Trainer oder auch Reporter ist das Problem aufgefallen, um den Fall aber gleich noch komplizierter zu machen. Denn anstatt der Aufforderung, die Nahtstelle zu suchen, soll der Ball nun in die Schnittstelle der Abwehrkette gespielt werden. Und das macht die ganze Sache nun endlich zu einer komplett rettungslosen Angelegenheit. Bei einer Schnittstelle handelt es sich nämlich leider nicht um die Stelle, an der etwas geschnitten wird, seien es Haare oder Abwehrketten. Die Schnittstelle ist ein physikalisch-technischer Begriff, der im weitesten Sinne einen Ort beschreibt, an dem zwei unterschiedliche Systeme miteinander verbunden werden.

Wir kennen das bei der Hardware von Computern, wo die Schnittstellen genormt sein müssen, damit sie aus Komponenten verschiedener Hersteller zusammengesetzt werden können. Und daran schließt sich die Frage an, was das bitteschön noch mit Fußball zu tun hat? Denn bei aller Freude über die Errungenschaften der neuen Fußballwelt wollen wir uns die armen Verteidiger doch wohl nicht als verschwitzte Prozessoren oder Datenspeicher vorstellen, zwischen denen durch einen wohl getimten Pass der Stecker gezogen wird.

Und nun? Sollen wir doch lieber beim schiefen Bild der Abwehrkette als Teil eines vom Trainer zusammengenähten Verbundes bleiben, den der Gegner mit einem Steilpass zerschneidet (den wir auch ganz bestimmt nicht „vertikal gespielten Ball“ nennen wollen)? Nein, vielleicht schlagen wir uns diesmal besser auf die Seite von einem, der bekennender Feind des zeitgenössischen Tech-Sprech im Fußball ist. Felix Magath bekommt bei der Erwähnung der Begriffe Naht- oder Schnittstelle ein derart scharfes Funkeln in den Augen, es könnte ganze Abwehrketten zerschneiden.