Die Spektren der Bewegung

Der Links-Druck im Norden (3): Die Zeitschrift „kassiber“ kümmert sich um linke Theoriebildung. Herausgegeben wird sie vom „Verein zur Verbreitung unterdrückter Nachrichten“ – was regelmäßig auch den Verfassungsschutz interessiert

Hartz IV und Kombi-Lohn, Folterdebatte, ärztliche Beihilfe zu Abschiebungen, Videoüberwachung in Bremen, Werder-Ultras, die Vergangenheit des Kulturstaatsministers Bernd Neumann – das sind die Schwerpunkte, die die sechsköpfige Bremer „kassiber“-Redaktion auf ihrer wöchentlichen Sitzung für die Märzausgabe beschlossen hat.

Die 25- bis 40-jährigen Journalisten ohne journalistische Ausbildung bringen die DIN-A4-formatige Zeitschrift seit 1989 ein bis sechs Mal pro Jahr in einer Auflage von 1.000 Stück auf den Markt. Weil keine „Privatkohle“ in das Projekt gesteckt werden soll, müssen zur Finanzierung von Druck und Papier immer wieder Solidaritätspartys veranstaltet werden.

Redakteure, Autoren, Fotografen bekommen keinen Cent für ihre Arbeit. Dafür darf jeder sicher sein, dass der publizistische Idealismus auch von staatsschützerisch höchster Stelle beachtet wird: Jahr für Jahr taucht „kassiber“ im Bremer Verfassungsschutzbericht als Publikation für „Autonome“ auf. Ihnen – und so auch dem „kassiber“ – werden Aktivitäten im Bereich „Antifaschismus, Antiimperialismus, Antirassismus, Anti-Atombewegung“ bescheinigt. „Kriegs- und Globalisierungsgegner“ seien es, denen man „Aktionen gegen die Abschiebung nicht aufenthaltsberechtigter Ausländer“ zuschreibt.

Eigentlich honorige Tätigkeitsbereiche. Aber aus ihrer politaktiven Erfahrung wissen die „kassiber“-MacherInnen, dass die Staatsanwaltschaft trotzdem ein Auge auf sie geworfen hat – wegen möglicher „Bereitschaft zur Gewaltanwendung“, wie es im Verfassungsschutzbericht 2004 heißt.

Deswegen ist es schwierig, die Redaktion überhaupt kennen zu lernen. Nur eine Mail- sowie die Postfach-/Faxadresse des Bremer Bürgerinitiativen-Infoladens stehen im Impressum. Erst nach Gesprächen mit Mittelsmännern und -frauen kommt es zu einem Treffen mit den RedakteurInnen Katharina Nauthe und Holger Peters. „Wir sind an keine politische Gruppe gebunden“, beschreiben sie ihr Projekt, mit dem „verschiedene Spektren“ der „linksradikal autonomen Bewegung“ abgebildet werden sollen, damit diese Szene „über den eigenen Tellerrand hinauszublicken lernt“.

„Mehr intellektuell als studentisch“ gehe man da vor, wie Peters feststellt. Als Herausgeber fungiert ein „Verein zur Verbreitung unterdrückter Nachrichten“. Dies bedeute unter anderem, so Peters, man dokumentiere antifaschistische Aktivitäten, Bekennerschreiben militanter und Ansichten linker Gruppierungen. Investigativer Journalismus hingegen fehlt, also AutorInnen, die selbst recherchiert haben, wer welche Informationen tatsächlich unterdrückt.

„kassiber“-Texte bedienen sich fast ausschließlich frei zugänglicher Quellen, zitieren gern aus dem Internet und der Tagespresse. Im Gegensatz dazu werden die Themen aber hintergründiger, analytischer, faktenreicher aufbereitet – und immer in einen politischen Zusammenhang eingeordnet – einseitig meinungsfreudig. Dagegen stehen allerdings die gern auch mal ironischen Anmerkungen der Redaktion.

Außerdem versucht die „Stadtzeitung für Politik, Alltag und Revolution“ Anregungen zu einer Debatte zu liefern, „die sich jenseits von Tresenweisheiten, Szeneklatsch und postmoderner studentischer Beliebigkeit endlich wieder mehr um linke Theoriebildung bemüht“, wie es in der letzten „kassiber“-Ausgabe heißt. Im Soziologen-O-Ton-Slang dürfen daher Diskursprofis ihre Gedanken zu einer zukünftigen Gesellschaftsform entwickeln.

„kassiber“ möchte so Fragen aufwerfen, nicht fertige Programmatiken verkaufen. Peters: „Links, das ist für uns ein schwammiger Begriff, der eigentlich nur bedeutet, nicht staatstragend zu sein.“

Positiv gewendet eröffnet die ideologische Ratlosigkeit eine Offenheit, die linke Grundlagendebatte noch mal ganz von vorn zu beginnen. Sehr vage, so dass erst mal ganz konkret gegen Hartz IV, Folter, Abschiebung, Videoüberwachung angeschrieben wird. Jens Fischer