Der gute Freund vom Oskar

„Ich bin nicht mehr in derLage, dies zu ertragen,und ich mag auch nichtmehr euch ertragen“Die Großmutter hat denEnkel nicht zum Rebellenerzogen: „Ich brachte es zurWürde des Oberministranten“

VON HEIDE PLATEN

Dass er so segelbraun aussieht, das, sagt Ulrich Maurer, sei „genetisch bedingt“. Die vorzeitigen Falten im Gesicht hat das Leben geschrieben, graue Haare in die schwarze Pilzkopffrisur gezogen. Vieles hat man Ulrich Maurer (57) schon nachgesagt: Ein Sunnyboy sei er, ein Frauentyp, ein Macher, ein politisches Schwergewicht. Raumfüllend ist er jedenfalls geblieben. Der große, schwere Mann mit dem dunkelroten Schal, dem tapsigem, nach vorn geneigtem Bärengang ist nicht zu übersehen im Saal des Stuttgarter Gewerkschaftshauses. Vor einem halben Jahr ist er in die Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) eingetreten. Mit einem Urknall verabschiedete er sich im Juni 2005 von der SPD, deren Parteibuch er 35 Jahre lang trug. Der zornige Brief, mit dem er es zurückgab, machte bundesweit Furore: „Ich bin nicht mehr in der Lage, dies zu ertragen, und ich mag auch nicht mehr euch ertragen.“ Sein Austritt war eine persönliche Kampfansage an Bundeskanzler Gerhard Schröder, gegen Agenda 2010, Hartz IV und Neuwahlen: „Eine Partei ohne politische Selbstachtung ist nur ein Netzwerk zur gegenseitigen Beförderung von Karrieren.“

Er trat in die im Südwesten eilig gegründete WASG ein. Im September 2005 wurde er als deren Spitzenkandidat in den Bundestag gewählt und ist einer der beiden parlamentarischen Geschäftsführer des Wahlbündnisses Linkspartei.PDS, das in Baden-Württemberg mit 3,8 Prozent der Wählerstimmen einen Achtungserfolg errang. Die Klientel der WASG in Baden-Württemberg rekrutiert ihre Mitglieder vor allem aus alten Gewerkschaftskreisen, aus frustrierten SPD-Anhängern. „Wir haben auch“, sagt Maurer mit zufriedenem Blick in die Runde der vor allem grauhaarigen Männer, „einen Zulauf linker Intellektueller … Hier sitzt der linke Professor neben dem Langzeitarbeitslosen. Darauf bin ich ein bisschen stolz.“ Im Saal werden die Plakate der 70 Landtagskandidaten an Wänden und Empore aufgehängt. Die Frauenquote liegt bei ungefähr 15 Prozent: „Da müssen wir noch nachbessern.“ Rund 1.600 Mitglieder sind mittlerweile registriert.

Strahlend schreitet Maurer zum Rednerpult, wettert, die Arme fest aufgestützt, gegen Neoliberalismus und Verschleuderung des Vermögens der Steuerzahler, predigt für Gesetze, die die Schwachen vor den Starken schützen: „Wir sind eine Regulierungspartei!“ Seine Lieblingsgegner sind neben dem Weltkapitalismus die einstigen Genossen im Bundesland: „Ich weiß nicht, wofür die sind und wogegen die sind!“

Maurer ist ein Macher auch in Kleinigkeiten. In Nullkommanichts hat er eine ruhige Ecke am Rande des Parteitags besorgt, Kaffee geordert, Milch, Zucker, Löffel gestapelt, einen Aschenbecher organisiert. Das Rauchen mag er nicht lassen, dosiert es aber mit diszipliniertem Selbstbetrug. Sorgfältig halbiert er seine filterlosen Zigaretten mit einer kleinen Schere, dreht sie in den großen Händen, nimmt immer nur drei bis vier Züge. Ob er wirklich daran glaubt, bei den Landtagswahlen am 26. März über 5 Prozent zu kommen? Maurer kräuselt die Nase, reißt die blauen Augen auf und sammelt Lachfältchen im ganzen Gesicht: „Man muss es probieren!“ Eine Chance sieht er im Zustand der SPD: „Die steht für nix!“ Und „warum zum Teufel“ solle man sie dann wählen? Er sei, schimpfen einstige Genossen, ein verbitterter, immer schon schwieriger Mensch, ein Querulant gewesen. Das will er nicht auf sich sitzen lassen. „Weder verbittert noch vergrätzt. Ach was, ich war stinkwütend!“ Über andere, unfreiwillige Wahlhilfe hat er sich in den vergangenen Wochen auch nicht beklagen können. Ehemalige Genossen hatten ihn als „eher abstoßend“ diffamiert. Rabiater Verbalkrieg ist in Baden-Württemberg zwar durchaus üblich, aber zu weit unter der Gürtellinie schafft das auch immer Sympathien für die Minderheiten. Während Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) noch zufrieden konstatierte, dass die WASG in Wahlkampf bisher „wenig sichtbar“ gewesen sei, sorgte ausgerechnet sein Stellvertreter Stefan Mappus für deren Publicity. Damit durchkreuzte er die parteiübergreifende Strategie des Ignorierens der WASG durch CDU, SPD und FDP. Mappus lehnte die Teilnahme an der Podiumsdiskussion eines Gymnasiums in Mühlacker ab, weil dort auch die WASG eingeladen war. Die freute es, weil solcherlei Machtspiele, so der Landesvorstand, „uns eher nützen“. Die Lokalpresse wetterte auch prompt gegen das „abgeschlossene Kartell der Besitzstandswahrer“.

Dass er nur aus der Partei ausgetreten sei, weil er dort nach und nach entmachtet wurde, das stimme keinesfalls, sagt Maurer. Seine Gegner behaupten, er habe es nicht vertragen, dass er zuletzt mit seiner Kampfkandidatur für das Europaparlament scheiterte. Maurer schießt gern zurück. Im November forderte er die „SPD-Linken“ per Pressemitteilung auf, „die Partei zu verlassen und sich der WASG oder Linkspartei anzuschließen“. Wem Agenda 2010, Hartz IV und Neuwahlen nicht gereicht hätten, der müsse sich spätestens nach der Koalitionsvereinbarung, die „eine erneute gigantische Belastung der kleinen Leute und eine Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben“ bedeuten, fragen, was er noch bei diesen „karrierebewussten Aufsteigern“ zu suchen habe. Er selbst habe mit seinem Austritt lange gezögert: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Und: „Wenn man so Lebenszeit in eine Partei investiert hat wie ich, dann ist es schwer, das Scheitern einzugestehen.“

Maurer macht es anderen nicht leicht, hat es aber auch nicht leicht gehabt: „Ich bin der Sohn einer allein erziehenden Mutter.“ Er ist in Stuttgart geboren. Der Vater, technischer Angestellter und Gewerkschafter, starb, als der Sohn vier Jahre alt war. Die Mutter arbeitete als Verkäuferin. Zwei Jahre lang lebte er bei den katholischen Großeltern in Worms. Dort hat er seine erste Prägung bekommen: Die Großmutter war sehr fromm. Sie hat den Enkel nicht zum Rebellen erzogen: „Ich brachte es zur Würde des Oberministranten.“ Als Jugendlicher sei er „völlig unpolitisch, aber damals schon ein Gerechtigkeitsfanatiker gewesen“. Nach dem Abitur ging er zur Bundeswehr: „Da bin ich als Wertkonservativer reingegangen und als Linksradikaler wieder rausgekommen.“ 1968 begann er sein Jurastudium in Tübingen, engagierte sich im Asta-Vorstand der linken Basisgruppe Jura. Und trat 1969 in die SPD ein. Die Spaltungen der studentischen Linken in orthodox maoistische und marxistische Gruppierungen hielt er für uneffektiv: „Wir haben uns damals überlegt, wo man am meisten verändern kann.“ Maurer wird Vorsitzender der Stuttgarter Jusos, 1971 der jüngste Gemeinderat Deutschlands. Er kämpfte gegen die SPD-Führung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Friedensbewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss.

1980 wird er Landtagsabgeordneter, sitzt in Vorstand und Präsidium erst der Landes-, dann der Bundes-SPD. Von 1992 bis 2001 ist er Fraktionsvorsitzender im Stuttgarter Landtag. Immer schon, sagt er, sei er ein Linker und Freund von Oskar Lafontaine gewesen. Der Kontakt sei nie abgerissen. Maurer wurde 1994 als Innenminister im Schattenkabinett des Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping aufgestellt. Man habe allerdings schon im Vorfeld der Kanzlerkandidatur „schwere strategische Fehler gemacht“: „Der Oskar hätte das machen sollen.“ Der Rücktritt Lafontaines als Bundesfinanzminister sei auch für ihn „eine schwierige Stunde“ gewesen. Dass am Ende Gerhard Schröder triumphierte, mit dem ihn nur „eine lebenslange Gegnerschaft“ verbinde, hat er bis heute nicht verwunden: „Der war immer Opportunist und stand noch nie für irgendetwas.“

Dass er die baden-württembergische Spitzenkandidatin Ute Vogt gefördert habe, sei wahr. Er habe sie für „sehr couragiert, sehr links, sehr idealistisch“ gehalten und sei von ihr auch „persönlich riesig enttäuscht“ worden, weil sie zu Schröder übergelaufen sei. Aber nein, sie sei nicht „sein Produkt“, so viel Hybris habe er auch wieder nicht, nur: „Manchmal ist man verliebt in das Bild, dass man sich von jemanden gemacht hat.“

Und wie kommt er so zurecht mit dem Linkspartei-Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi? Maurer schluckt, zögert: „Ich amüsiere mich immer sehr über seine Schlitzohrigkeit.“ Aber sie seien schon sehr unterschiedlich. Im politischen Streit bevorzuge Gysi wohl „das Florett, während „ich lieber schwerere Waffen, den Säbel benutze“. Dass er zeitweilig dem rechten SPD-Flügel zugerechnet wurde, das will Maurer gar nicht so recht glauben. Er hoffe auf eine Reorganisation der Linken als Alternative zum Kapitalismus. Dabei müsse man allerdings bei der Vereinigung von WASG und PDS „schon mit Kollateralschäden“ rechnen, aber er hoffe, „dass die Satzungshuberei“ sich in Grenzen halten werde.

Seine Ämter und Ehrenämter hat Maurer sich in sozialdemokratischer Tradition gewählt, Aufsichtsrat einer Baugenossenschaft, Mitglied in der Gewerkschaft Ver.di, der Arbeiterwohlfahrt, bei Naturfreunden, dem Verein „Gegen das Vergessen – für Demokratie“. Die Familie trage sein neues Engagement mit. Auch seine erwachsenen Kinder sollten ihn schließlich noch zu sehen bekommen: „Wenn man selbst vaterlos aufgewachsen, möchte man nicht gern vaterlose Kinder haben.“ In seiner Freizeit treibt er Sport, Fußball, manchmal Tennis, liest, schreibt Bücher. Zusammen mit Hans Modrow veröffentlichte er im vergangenen Jahr: „Überholt wird links. Was kann, was will, was soll die Linkspartei“. Ulrich Maurer saust davon, denn sein Freund Oskar Lafontaine ist nach der Mittagspause als Redner angekündigt: „Mit dem muss ich jetzt unbedingt reden.“ Doch der hat keine Zeit, denn er steht vor der Halle im Nieselregen und gibt im dicht gedrängten Medienpulk unermüdlich Interviews. Hinterher reicht es gerade für ein paar gemeinsame Fotos und ein Händeschütteln.

Lafontaine steigt in den Dienstwagen und Ulrich Maurer steht vor der Tür, zieht an seiner kurzen Zigarette und winkt.